Der verbotene Kuss
eingestürzt. Die Widerlager waren von Rankpflanzen verschlungen worden, und nur eine einzelne verrostete Strebe ragte noch aus dem Grünzeug in die Luft. Daran hing ein eiserner Käfig.
Beim Anblick des Käfigs schossen Erinnerungen wie ein Speer in Esmés Kopf. Es war nur ein einzelnes Bild, doch in diesem Bruchteil einer Sekunde glaubte sie langes rotes Haar durch die Gitterstäbe hängen zu sehen, und kleine Hände, die sie von innen umklammerten. Dann setzte Mihai sie in einem Säulenvorbau vor der lädierten Tür des einsamen Turms ab. Tiefe Spuren von Krallen durchzogen das Holz. Die Bestien hatten versucht, dort einzudringen, aber die Tür hatte ihnen offensichtlich standgehalten. Mihai holte einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. Als die Tür aufschwang, wehte ihnen ein stickiger Geruch entgegen, eine faulige Luft, die viele Jahre eingeschlossen gewesen war. Esmé taumelte zurück und schwankte am Rand der Schwelle, weil ihr übel wurde. Es ging steil in den Abgrund hinunter, und Mihai ergriff sie fest am Arm.
»Aua«, sagte sie, als er sie vorwärts in den Gestank des dunklen Turms zog. »Warte«, rief sie und wehrte sich. »Ich will nicht da hinein –«
»Die Bestien werden kommen«, sagte Mihai, zerrte sie in den Turm, schlug die Tür hinten ihnen zu und schloss ab. Esmé glaubte, sie müsse in der dichten, fauligen Luft ersticken. Sie ging auf die Knie und übergab sich. Als sie sich berappelt hatte und sich umschaute, war Mihai bereits weiter in die raue Felskammer vorgedrungen. Es herrschte Dunkelheit, aber keine vollständige. Durch einige kleine Schlitze im Fels fiel das Licht in breiten Strahlen hinein, und das genügte, um einen milchigen Spiegel zu beleuchten, der mit Edelsteinen gerahmt war. Esmés Gedächtnis meldete sich lautstark bei diesem Anblick. Sie kannte diesen Spiegel. Sie kannte diesen Ort.
Der Raum ähnelte einer Kapelle, denn die Felsdecke wölbte sich hoch über ihr. In den Wänden gab es Nischen und aus dem Stein geschlagene Gruppen geflügelter Menschen, Hirsche, Wölfe und Monde, Krähen, Schlangen und Krokodilwesen mit Köpfen von Falken. Und mitten in diesen Steinfiguren entdeckte Esmé Augenlider, Dutzende und Aberdutzende – vielleicht Hunderte – angelaufener Lider aus Silber, genauso wie sie es in Frankreich geträumt hatte, in jener unruhigen Nacht, ehe die Wölfe sie gefunden hatten. In ihrem Traum hatten sie sich alle geöffnet und echte Augen enthüllt, doch diese waren geschlossen. Klebrige gelbe Streifen waren bei manchen aus den Scharnieren gelaufen, und das stellte die Quelle des Gestanks dar, wie Esmé nun erkannte: tote Augen, Hunderte davon.
Mihai beobachtete sie. Esmé kam es vor, als würde er etwas von ihr erwarten.
»Was ist das für ein Ort …?«, murmelte sie.
»Erinnerst du dich nicht?«, fragte er leise.
Erinnern? Sie wollte den Kopf schütteln und solcherlei Erinnerungen leugnen. Wie sollte sie sich an eine Kapelle voller silberner Lider erinnern? Und woher konnte sie gewusst haben, dass Mihais Lippen nach Fluss geschmeckt hatten? Was passierte mit ihr? Tief in ihrem Inneren war eine Krypta entsiegelt worden, und die Dinge darin entfalteten sich nun – heimliche Dinge, klamm wie Reptilienhaut, Dinge, die sie nicht bei Tageslicht sehen wollte.
Aus den Augenwinkeln erhaschte sie eine Bewegung, wandte sich um und erstarrte, als sie sah, was es war. Eins der Augen hatte sich geöffnet. Nicht alle waren tot. Der blasse Apfel eines Auges starrte sie an. Die Iris war braun, so wie bei ihren eigenen, ihren echten Augen. Es erschien ihr wie das eines Menschen. Sie fühlte sich durch den prüfenden Blick wie angenagelt und verharrte sehr still, wagte nicht einmal zu atmen.
»Es sieht dich nicht. Auf diese Weise funktioniert es nicht«, erklärte Mihai, der ihre Anspannung bemerkte. Er deutete auf den Spiegel: »Schau.«
Esmé sah hinein. In der wolkigen Oberfläche regte sich etwas, und ein Bild nahm langsam Gestalt an. Als es aufgeklart war, sah sie eine Reihe Kamele, die über eine Düne trotteten. Hinter ihnen leuchtete der Himmel rot in der untergehenden Sonne, und lange Schatten dehnten sich vor ihnen aus. Einen Augenblick lang fühlte sie sich, als wäre sie dort und wanderte mit der Karawane durch den Sand. »Wo … wo ist das?«, fragte sie Mihai.
»Du solltest es besser wissen als ich.«
Niedergeschlagen fragte sie sich, woher sie das wissen sollte. Sie wandte sich vom Spiegel ab und wollte antworten, doch ehe sie
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