Der verbotene Kuss
in der Felswand verkrochen. Sie hatte geweint und sie angefleht, allein bleiben zu dürfen. Aber sie hatten ihre Arme gepackt und sie aus der Nische gezogen. Und wie schon so viele Male zuvor, hatte die Königin ihr die Finger unter das Kinn gelegt und es angehoben. Mab hatte gesehen, wie sie Mihai einen fragenden Blick zuwarf, der daraufhin genickt hatte. »Du wirst alles verstehen«, hatte er gesagt, und die Königin hatte sich wieder Mab zugewandt. Durch einen Tränenschleier hatte Mab in diese verhassten blauen Augen geblickt. Die Kälte war in sie hineingeströmt.
Und diesmal war Vergessenheit damit einhergegangen. Sie erinnerte sich an nichts, was danach geschehen war, bis zu dem Zeitpunkt, als Mihai sie auf den Armen durch ein Fenster in der Luft nach London getragen hatte. Zu Yazad.
Nun hob Mab den schweren Türklopfer an Yazads Eingang und ließ ihn fallen. Es krachte wie ein Pistolenschuss. Sie klopfte ein zweites Mal, und kurz darauf kam Yazad persönlich an die Tür, nicht der Butler, den Mab erwartet hatte.
»Meine Liebe«, sagte er und lächelte sie herzlich an. »Ach, wie die Zeit vergeht.« Er nahm ihre Hand und drückte sie. Das war, wie er wusste, die einzige Berührung, die sie erlauben würde. »Komm herein«, sagte er und trat zur Seite, um sie hineinzulassen.
Mab betrat die prachtvolle Marmorhalle, die von Kronleuchtern erhellt wurde und in der Goldverzierungen glänzten, und sie erinnerte sich daran, wie sie diesen Raum zum ersten Mal gesehen hatte. Jetzt ließ sie der Anblick kalt. Sie blickte Yazad an.
Er war ein alter Mann mit weißen Haaren und brauner Haut, mit Runzeln wie den Falten von feinem Leder, die mit der Zeit tiefer und tiefer werden. Seine Augen waren hell wie die eine Vogels und braun wie ihre eigenen. Yazad war ein Mensch.
»Warum hat er sie mitgenommen?«, verlangte sie zu wissen.
»Komm in die Bibliothek, meine Liebe«, sagte er. »Dort werden wir uns unterhalten.«
Sie folgte ihm über dicke Teppiche in allen Edelsteinfarben des Orients, vorbei an vielarmigen Statuen, Bronzehelmen, gekreuzten Krummsäbeln und mandeläugigen Madonnen mit Blattgold. Yazads Haus war eine Schatzkammer antiker Schönheit, und die Bibliothek stellte alles noch in den Schatten. Mab blieb in der Tür stehen und erinnerte sich daran, wie sie hier lesen gelernt und gleichzeitig die winzige Esmé im Arm gewiegt hatte. Hier an dem Ort, wo Esmé das Licht der Welt erblickt hatte, konnte sie ihre kleine Tochter fast auf dem Arm fühlen . Niemals würde sie vergessen, wie sich dieser kleine Körper angefühlt hatte, und plötzlich erfüllte sie eine entsetzliche Sehnsucht. Mab stöhnte. »Yazad«, flehte sie, »was passiert mit ihr? Weißt du es?«
»Ich weiß es, und ich verspreche dir, Mihai wird auf sie aufpassen. Er bringt sie zurück. Tee, meine Liebe?«
»Wie bitte? Nein! Wann bringt er sie zurück? Was hat er vor?«
Yazad schenkte erst einmal zwei Becher Tee aus einem Samowar ein und stellte sie auf einen Tisch mit Marmorplatte. »Er hat gar nichts vor«, antwortete er und lächelte mitfühlend dazu. »Er wartet lediglich ab. Was geschehen ist, geschah vor langer, langer Zeit, und es wird bald vorüber sein. Du darfst mir vertrauen, wenn ich dir sage, dass ich weiß, was Esmé gegenwärtig durchmacht, Mab. Ich musste es selbst durchmachen, als ich in ihrem Alter war.«
» Was musstest du durchmachen?«
»Natürlich waren das andere Zeiten und ein anderes Land. Plötzlich ein blaues Auge zu bekommen, wurde nicht gerade gut aufgenommen, im Srinagar meiner Jugend!« Er lachte. »Die Priester glaubten, ich sei von einem Dämon besessen, aber die Auswahl an Dämonen war zu groß! Sie hätten mich beinahe getötet, als sie ihn aus mir heraustreiben wollten. Was für schreckliche Zeiten das waren!«
Mab starrte ihn an. Er lächelte und lachte, als er sich seinen Erinnerungen hingab, und nur ein leises, unbehagliches Zucken in den Augen verriet, wie unangenehm sie in Wirklichkeit waren.
»Für mich war es schlimmer, als es für Esmé sein wird«, fuhr er fort. »Viel schlimmer. Verstehst du, ich war der Erste.«
»Der erste was ?«
»Es gab damals kein Wort dafür«, sagte er. »Es war ein Zufall, ein Akt der Verzweiflung, der … unerwartete Ergebnisse erbrachte. Später, viel später fand Mihai den Namen Hathra dafür. Ganzheit . Ich glaube, es ist ein schönes Wort.«
»Yazad!«, rief Mab wütend. »Was hat er ihr angetan? Du hast gesagt, deine Priester vermuteten, du seiest von einem
Weitere Kostenlose Bücher