Der verbotene Kuss
Aber er hatte die Gestalt nicht gewechselt. Er hatte sich in seiner menschlichen Form vorangekämpft, war vom Berg heruntergestiegen und hatte einen weiten Bogen um die Rauchfahnen der Herdfeuer in den schwarzen Nomadenjurten geschlagen. Er hatte sich nicht umgeschaut. Er war nie nach Herezayen zurückgekehrt, und seit jenem Tag hatte er kein Cithra mehr angenommen.
Dieser Tag lag Jahrhunderte hinter ihm.
Damals trieb es ihn in die Menschenwelt, über Bauernhöfe in stinkende Städte, wo niemand wusste, dass er sich vor ihm fürchten sollte. Er bewegte sich unter den Menschen wie ein Phantom und fand solche, die ihn anzogen, deren helle Augen ihn zum Eintreten einluden wie ein Portal. Menschenaugen waren wie Fenster, die man in einem Sturm offen gelassen hatte, und es war nicht schwer, hineinzuschlüpfen und es sich bequem zu machen. Er trug Männer und Frauen, er tanzte auf ihren Füßen, schmeckte mit ihren Zungen und kämpfte mit ihren Fäusten. Er trieb es in Heuhaufen, drängte einen ihrer Leiber an den anderen und wechselte zwischen ihren mondglänzenden Augen hin und her.
Es geschah alles in allem aus Neugier. Das Rauschen ihres Blutes umschloss ihn wie ein Kokon und weckte etwas in ihm, eine Beinahe-Erinnerung. Aber das Gedächtnis tanzte im Nebel, neckte ihn und ließ ihn niemals etwas Greifbares packen.
Er machte nur weiter, weil er nichts anderes zu tun hatte. Er lernte, wie er seinen Körper verlassen und über weite Entfernungen jagen konnte, als unsichtbarer Animus auf der Suche nach einem Gastgeber, und sein langsamer Körper wartete an einem sicheren Ort, bis er zurückkehrte. Er probierte Kriegsherren und Priester und Dienstmädchen aus. Er roch den Schwarzen Tod und stieß die Leichen mit dem Fuß aus dem Weg. In der Schlacht von Pavia feuerte er eine Arkebuse ab und schoss dem französischen König das Pferd unter dem Hintern weg. Er setzte eine Meuterei auf einem Sklavenschiff in Gang. Er mischte Pigmente für einen florentinischen Meister und probierte das Karminrot auf der Spitze von Marderpinseln aus.
Er lernte, was den Puls der Menschen in Wallung brachte, lernte, wie die Berührung von Lippen zwei Liebende dazu bringen konnte, in eine Nische zwischen den Momenten zu schlüpfen, sodass die Zeit an ihnen vorbeifloss. Er lernte, dass ein Kuss ihm seine Beinahe-Erinnerungen näher brachte als alles andere, aber immer noch nicht nahe genug, um sie wirklich zu packen. Es war süß, bitter und unerträglich.
Er brach die Druj-Tabus, alle außer einem. Er vernichtete niemals eine menschliche Seele, selbst nicht in den Tagen, als er noch nicht begriff, was sie waren, und heute war er darüber sehr froh. Er ignorierte das Tabu, in Kinder einzudringen, allerdings nur vorsichtig, und einmal drang er in eine alte Frau ein, aber wirklich nur einmal, weil er da begriff, dass es gute Gründe für dieses Tabu gab. Ihre Seele war für ihn nicht zur Seite gerückt. Die Seele hatte die Frau eng und voll ausgefüllt und wenig Platz für seinen Animus gelassen, und eine Schrecksekunde lang hatte er nicht gewusst, ob er wieder würde entfliehen können. Die Alte hatte auf den Boden gespuckt, nachdem er sich aus ihr befreit gehabt hatte, und er hatte daraufhin auf Greise verzichtet.
Er trotzte sogar dem Feuer – der einzigen Sache, vor der sich die Druj tatsächlich fürchteten, und er wurde als Hexe im Körper einer jungen Frau verbrannt. Er hüllte ihren Verstand in eine Erinnerung ans Fliegen, als die Flammen sie ergriffen, und sie musste keine Schmerzen leiden, sondern lächelte und breitete die Arme aus wie Schwingen. Er fühlte alles, jede Flamme, aber die verbrannten nur die menschliche Hülle, und sein Animus schoss hinaus, als die Seele ihr Heim verließ. Danach wurde er den Geruch brennenden Fleisches nicht mehr los, und lebte wochenlang im Körper des Inquisitors. Er trieb ihn in den Wahnsinn, bis sich dessen Untergebene gegen ihn wandten und ihn mit Handschellen in Ketten legten, an denen noch das Blut seiner Opfer klebte. Mihai sparte sich diesen Scheiterhaufen. Sollte der Inquisitor die Flammen doch allein durchleiden.
Kinder, Alte, Feuer – er hatte alle Tabus gebrochen außer dem Einen. Es war das Letzte, das ihn lehrte, was kein anderer Druj wusste, eben jenes, das er später Hathra nennen würde, und das sein Leben für alle Zeiten verändern sollte.
Als er ein Paar helle schwarze Augen aus dem Schatten einer Platane oben in Kaschmir hatte spähen sehen, war er sofort zu der betreffenden
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