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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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stammte aus einer Druj-Zitadelle namens Herezayen im Tienschan. Dieses Gebirge war eine Welt der Schneewehen und des Eises, der endlosen Fichtenwälder und zugefrorenen Seen inmitten uralter Felsgesteine. Eine Welt der Wolfslieder und des Windes. Die kirgisischen Nomaden nannten das Land »Die Berge der Geister« und blieben mit ihren Jurten und Ziegen auf den niedrigeren Hängen, in ausreichendem Abstand zu den Druj, die im Hochgebirge hausten. Nicht dass ihnen das zu mehr Sicherheit verhalf.
    Das Leben in Herezayen war auf brutale Weise erstarrt. Die Zeit tröpfelte von den Eiszapfen, und Mihais Stamm gab sich alle Mühe, der Trostlosigkeit ihrer endlosen Tage zu entfliehen. Sie jagten, wie es ihnen gefiel, wie Wölfe oder Adler oder Schneeleoparden. Sie spionierten die Menschen aus, wann immer sie welche fanden, und schlüpften in sie hinein, obwohl sich das selten lohnte. Es machte wenig Spaß, den Körper eines einsamen Hirten oder einer molligen Frau zu tragen, die sich in einer grunzenden Sprache äußerten und nach ranzigem Fett rochen. Wenn sie Menschenkinder fanden, die allein umherzogen, nahmen sie diese mit in ihre kalten Höhlen und behielten sie. Sie versuchten, die Kleinen zum Lachen zu bringen, aber die waren gleichgültig und weinerlich, und auch solcherlei Ablenkungen wurden die Druj rasch leid.
    Selten, nur einmal im Laufe mehrerer Jahrzehnte, wurde die Langeweile durch einen Besuch der Königin durchbrochen. Mazishta hieß sie, die Größte von ihnen allen. Sie kam in ihrem Schlitten mit ihrem Gefolge aus Wölfen, und sie erwartete, dass man vor ihr auf die Knie fiel und ihr huldigte. Also taten sie es. Schließlich erinnerten sie sich schwach daran, was einst geschehen war, als einige von ihnen diese Verehrung verweigert hatten. Bis die Wogen des Vergessens die Erinnerung an diesen grausigen Tag hinweggespült hätten, würden sie in ihrer Huldigung nicht nachlassen, sie allerdings auch nicht mit großer Begeisterung vollziehen.
    Zwischen den Stämmen herrschte keine große Zuneigung. Ohne Zweifel waren sie alle aus dem gleichen Volk hervorgegangen, doch in der langen Isolation hatten sie sich zu Rivalen entwickelt. Keiner der Druj aus Herezayen freute sich, die Königin zu begrüßen und ihre Macht spüren zu müssen, denn sie spielte nur allzu gern die Herrin. Die Naxturu von Herezayen, darunter auch Mihai, und die Naxturu aus Tajbel umkreisten einander wie feindliche Wolfsrudel, und ihre Blutgier wurde nur von dem unbeugsamen Willen der Königin in Schach gehalten. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten sie sich gegenseitig in Stücke gerissen. Doch so warteten die unteren Ränge der Druj nur auf den Tag, an dem ihre Macht schwächer würde, damit sie auch einmal die Königin – und ihr Rudel – demütigen könnten, wie sie es selbst so lange hatten ertragen müssen.
    Obwohl sie sich über die Vorherrschaft der Königin ärgerten, erinnerten sie diese Besuche jedoch immer an ihre eigene Macht, die sie nicht mehr gebrauchten. Für eine Weile wurde diese Macht mit neuem Leben erfüllt, doch meistens nicht sehr lange, nachdem die Königin wieder abgereist war. Aus der Trostlosigkeit des Lebens schien es keinen Ausweg zu geben.
    Mihai glaubte, einst war es anders gewesen. Schließlich musste jemand die magischen Symbole in die Felswände von Herezayen gemeißelt haben, und irgendwer hatte die Bücher geschrieben, die in Schneewehen verschimmelten, bis sie nicht mehr lesbar waren. Er sehnte sich nach dem Wissen, das in ihnen gesammelt gewesen war, doch alle Tinte war verschmiert. Und er glaubte nicht, dass sie von irgendwelchen vergessenen Vorfahren verfasst worden waren – es gab keine Vorfahren. Es gab nur sie selbst, und ihr unendliches Leben dauerte vom verlorenen Anfang bis zum unbekannten Ende. Vielleicht hatte er sogar selbst diese Bücher geschrieben und konnte sich nur nicht mehr daran erinnern.
    Denn seine ganze Erinnerung bestand in diesem Rhythmus der Monotonie. Sobald er an eine Zeit davor zu denken versuchte, verirrten sich seine Gedanken in einem Nebel.
    Eines Tages hatte er Herezayen verlassen. Er war ohne Vorbedacht losgegangen, hatte einfach zu gehen begonnen und war immer weitergegangen. Wenn er es sich recht überlegte, hatte ein Teil von ihm wohl von Anfang an keine Rückkehr eingeplant, denn sonst hätte er ein Cithra angenommen und wäre als Adler geflogen oder auf breiten, pelzigen Wolfspfoten gelaufen. Denn bei einer Rückkehr hätte ihn jemand zurückflüstern können.

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