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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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dafür. Esmés Augen wurden glasig. Der Schmerz übermannte sie bereits. Eins jedoch konnte Mihai ihr noch sagen, und das würde vielleicht helfen. Er nahm Esmés Kinn in die Hand und sagte: »Mazishta, höre mir zu. Dein wahrer Name, als du noch ein Mensch warst, lautete: Mahzarin. Goldener Mond. Meine wunderschöne Mahzarin.«
    Esmé schlug die Augen auf, ihre Lider flatterten, als sich die Erinnerungen in ihr ausbreiteten. Ein Schluchzen stahl sich über ihre Lippen. Draußen vor der Tür heulten die Bestien. Und der Schmerz brach über sie herein wie die Nacht.

– DREIZEHN –
Beinahe-Erinnerungen
    S ie hatte ihren Namen so lange vergessen. Der Nebel hatte ihn verschlungen.
    Aber ihr Name war Esmé. Sie war ein Mädchen mit langem, sehr rotem Haar. Ihre Mutter flocht es. Der Junge im Blumenladen stellte sich in der Schlange hinter sie und nahm den Zopf in die Hand. Ihre Mutter hatte ihn abgeschnitten und an einen Kronleuchter gehängt.
    Sie war Königin. Mazishta. Ihr Haar war schwarz und ihre Dienerinnen schmückten es mit Perlen und Silber nadeln.
    Ihre Haut war golden wie die Wüste.
    Ihre Haut war blass wie Milch.
    Ihre Augen waren blau.
    Braun.
    Sie wusste, wie es sich anfühlte, Augäpfel in den Fingern zu halten. Den Bestien Katzen zuzuwerfen. Müttern ihre Säuglinge aus den Armen zu reißen. Jäger mit Reißzähnen im Schnee zu küssen. Vor ihren Füßen befand sich eine Krypta mit Erinnerungen, die tief in die Erde reichte. Von dort stiegen nun Dinge auf, auf Flügeln und auf Nebelfetzen. Dinge, die ihr Angst machten.
    Mahzarin.
    Sie hatte ihren Namen vergessen.
    Sie versuchte, ihren Verstand in einen Zustand wie einen Gang mit offenen Türen zu bringen, klar und bereit, falls sie Schritte hörte, bereit für alles, was vielleicht vorbeitanzte. Wölfe, Bestien, Mütter, geraubte Jungen.
    Tanz auf dem Dach, ein Beutel mit Kirschen, Spitze, Märchenbücher mit Goldprägung.
    Und ihr Körper erinnerte sich an Dinge, die ihr Verstand nicht wusste. Wann immer sie die Babys auf dem Arm hielt, wurde sie von Beinahe-Erinnerungen umschwärmt, wie von Glühwürmchen, die nie nahe genug kamen, um sie fangen zu können.
    Mahzarin. Sie schnappte sich den Namen aus der Luft und hielt ihn fest, als der Schmerz auf sie niederkam wie Trommeln und Donner, und sie spürte, wie sie auseinandergerissen wurde. Sie war ein Mädchen, und sie war eine Königin, und wieder im Nebel war sie eine Frau, die den Mond aus dem Himmel geholt und sein Licht getrunken hatte, damit sie niemals sterben würde. Und sie war nicht gestorben.
    Der Schmerz blendete sie. Er zerschmetterte die Welt, von der ein Mahlstrom gezackter Flügel blieb, die auf sie einschlugen und an ihr zerrten. Sie fiel auf die Knie und stellte sich vor, in einem langen Gang zu sein, und obwohl sie die Türen weder sehen noch fühlen konnte, versuchte sie, sie offen zu halten, damit der Schmerz einen Ausgang finden konnte, nachdem er sie entzweigerissen hatte.

– VIERZEHN –
Der Kuss
    M ihai hielt Esmés Kopf in den Händen, während sie sich auf dem Boden des Tabernakels wand. Ihre Schreie hatten sogar die Bestien erschreckt, die darauf verstummt waren, doch nach einem Augenblick setzten sie ihr mitleiderregendes Klagen vor der Tür fort. Esmé hatte die Augen geöffnet, doch Mihai wusste, sie konnte nichts sehen außer Dunkelheit und verworrenen Erinnerungen. Er wiegte ihren Kopf in seinen Händen und ihren Leib zwischen seinen Knien, damit sie sich nicht verletzte, während sie sich hin und her warf.
    Der Leib der Königin saß weiterhin in seiner Nische und rührte sich nicht, doch bald war es so weit. Mihai hatte sich gewünscht, er könnte glauben, dass sich sein Warten dem Ende näherte, aber er war kein Narr. Sie konnte ihn für das, was er getan hatte, umbringen, und er würde ihr deswegen nicht einmal einen Vorwurf machen. Es wäre ein poetisches Ende für sein langes, verrücktes Leben, und manchmal klang Tod gar nicht so schlecht, sondern schlicht und sogar ein wenig süß. Natürlich hoffte er, alles würde anders kommen.
    Das hoffte er schon seit dem Tag vor fünfzehn Jahren, an dem er die Königin geküsst hatte und wodurch ihm endlich alles klar geworden war.
    Es war Glück oder Schicksal, dass sich ihre Wege überhaupt gekreuzt hatten. Von den Orten, wo sich zwei Körper in dieser Welt aufhalten können, von den Alleen, Minenschächten und Schlachtfeldern, waren sie sich ausgerechnet auf einem verlassenen Schneehang in den Bergen am Rande von

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