Der verbotene Kuss
Einsamkeit und die gleichen Verluste leiden müssen wie er. Wenn es dafür eine Lösung gab, so würde sie in der Magie zu finden sein, und deshalb beschäftigten sich die beiden ausführlich damit. Sie sammelten Bücher von vergessenen Orten, aber nirgendwo stand etwas geschrieben, das ihnen weiterhalf. Also experimentierten sie auf eigene Faust in der Sprache der Druj. Sie hatten Zeit, viel Zeit, und so fanden sie den Zauber, den sie suchten.
Während der nächsten Jahrhunderte wiederholte Mihai seine Brut ein Dutzend Mal. Er schlüpfte in ein Dutzend menschliche Wirte, drang durch die Augen der Mutter ein und begab sich in den Kern des keimenden Lebens in ihrem Bauch. Jahre später konnte er jeweils seiner zusammengeflickten Seele ein weiteres Stück Mensch hinzufügen. Jedes Mal entwickelte sich seine Menschlichkeit weiter, und zusätzlich geschah noch etwas anderes. Der Nebel lichtete sich allmählich. Die Beinahe-Erinnerungen tanzten um ihn herum wie Schmetterlinge, und er lernte, sich ganz still zu verhalten, damit sie sich auf ihm niederließen. Und er begann, sich zu erinnern.
Und das, woran er sich erinnerte, riss seine Welt in Stücke und setzte sie in neuer Gestalt wieder zusammen.
»Wir waren Menschen«, wiederholte er, während er immer noch Esmés Hände hielt, ihr in die Augen schaute und dort nur die Augen der Königin sah. Esmé war ebenfalls da, gehörte nun für immer dazu, doch er sprach zur Königin. »Wir hatten Seelen. Wir haben sie aufgegeben, Sraeshta. Man gab uns die Wahl, und wir entschieden uns für die Unsterblichkeit.«
Esmé starrte ihn an. Sie, oder die Königin – im Augenblick gab es keinen Unterschied – erwiderte mit einer gewissen Skepsis: »Nein.«
»Doch. Wir wussten nicht, was wir verlieren würden. Wir waren so erfüllt von unserer Macht, dass wir glaubten, nicht einmal die Erzengel könnten uns unterwerfen! Was wir entdeckt hatten, erhob uns über den Rest der Menschheit. Wir konnten andere Gestalten annehmen, uns unsichtbar und schwerelos machen. Wir beherrschten die Elemente. Wir verwandelten Eisen zu Gold, Stein zu Eisen und Erde zu Wasser. Wir konnten Krankheiten durch die Luft schicken, und wir sandten Alexander den unheilvollen Wind, weil er Persepolis zerstört und Zarathustras Schriften verbrannt hatte. Wir sind groß, Mazishta, und wir sind alt, aber dort im Nebel gibt es eine Zeit, in der wir Kinder waren, du und ich.«
Und er dachte: Eine Zeit, in der wir Kinder gebaren . Er sprach es jedoch nicht aus.
Esmé zitterte jetzt, und trotz der Kälte in dem feuchten Tabernakel stand ihr der Schweiß auf der Stirn. Mihai streckte die Hand aus und spürte die Hitze, die von ihr ausstrahlte, ehe seine Finger ihre Haut erreichten. Er wusste, was passieren würde. Er hatte es von innen bereits ein Dutzend Mal erlebt, doch niemals von außen dabei zugesehen. Das Zuschauen, so glaubte er, war schwieriger zu ertragen als der Schmerz.
Esmés Seele und der Animus der Königin hatten sich in vierzehn Jahren verbunden, und jetzt würden sie auseinandergerissen werden. Wie bei einer Geburt nahm dieses Ausbrüten seinen festen Lauf und ließ sich nicht aufhalten. Er hatte gehofft, seiner Königin zunächst mehr über ihre Geschichte erzählen zu können. Danach würde alles … schwierig werden. Sie würde wieder sie selbst sein, bei weitem mächtiger als er, und sie würde sehen, was er getan hatte. Wie er sie ausgetrickst und vor vierzehn Jahren geraubt hatte, ihren ganzen Stamm im Tier-Cithra gefangen gehalten hatte, während die Augäpfel ihrer Spione in den Silberlidern verfault und ihre Zitadelle den Bestien zugefallen waren.
Eine dieser Bestien brüllte und donnerte an die Tür, als wolle sie Mihai aus seinen Gedanken reißen. Der gesamte Turm erzitterte, und Mihai zitterte ebenfalls. Er hatte Angst. Seine zusammengestückelte Seele machte die Angst zu einer wirklichen, lebendigen Angelegenheit, und sogar diese Angst liebte er, denn er konnte sich noch daran erinnern, wie stumpf das Dasein ohne sie gewesen war. Wenn man ihn erneut vor die Wahl stellen würde, seine Seele oder die Unsterblichkeit, so wusste er, wie er sich entscheiden würde. Es gab nur einen Weg, wie sich seine unwissende Spezies wieder in die Menschheit zurückschleichen konnte – und zwar mithilfe dieses geheimen Weges, die er entdeckt hatte.
Es gab noch vieles, das er der Königin gern erzählt hätte, ehe ihr Animus aus Esmés Seele schlüpfte – so vieles –, aber jetzt war keine Zeit
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