Der verbotene Kuss
unsichtbarer Animus, der von seinem verlassenen Körper davontrieb, beraubt von der Seele, die er für die eigene gehalten hatte.
Schon früher hatte er in den Körpern, die er trug, die Seelen gespürt, aber es hatte sich um klägliche zitternde Dinger gehandelt, denen sein Animus kaum mehr Beachtung schenkte als einem Mantel am Garderobehaken. Diesmal war es ganz anders gewesen. Yazads Seele war mit seiner identisch gewesen, und er war in ihr gewesen und sie in ihm. Furcht, Stolz und Scham, Zorn, Kummer und Liebe hatten sie und ihn schwingen lassen wie Harfensaiten. Jeden Tag hatte er ein Gewühl von Empfindungen erlebt.
Und jetzt war diese Seele fort. Es war, als sterbe er, doch ohne den Trost, vergessen zu dürfen.
Er ließ zu, dass sich sein eigener Körper seinen Animus zurückholte, aus dem grünen Tal von Kaschmir hin in die Wildnis des öden Persiens. Vor Jahren hatte er seinen Leib in einer uralten Zinnmine der Sassanidenkönige gelassen, und dort befand er sich noch. Er kehrte in ihn zurück, klopfte den Staub ab, und nachdem er kurze Zeit wie ein Mensch gelebt hatte, empfand er seine unsterbliche Hülle mit den hellen Augen und den Wolfszähnen als ein kaltes Heim.
Und wenn er dieses kalte Dasein schon vor seinem Aufenthalt in Yazad trostlos gefunden hatte, so wurde es nun beinahe unerträglich. Mihai versuchte, in seine alte Existenz zurückzukehren. Zufällig kam er an einer Hochzeitsfeier vorbei und drang beinahe ohne nachzudenken in den Bräutigam ein, aber das Gefühl, die Seele des jungen Mannes beiseitezuschieben, ekelte ihn an. Es war so, als würde er ein Tier unter dem Absatz zerquetschen, und er zog sich sofort wieder zurück. Er hatte die Hochzeit aus der Ferne beobachtet und verstand diesen Abscheu nicht, der über ihn gekommen war.
Doch dann begriff er − es waren Gewissensbisse.
Druj kennen keine Gewissensbisse.
Und Mihai verstand, dass er sich verändert hatte.
»Sind Seelen nur dazu gut?«, hatte Esmé ihn vorhin gefragt. »Nur gut, wenn wir sterben?« Mihai hätte lachen oder weinen können, als sie danach gefragt hatte. In all ihrer Schlichtheit schien diese Frage den Sinn seines Lebens zu enthalten.
»Nein«, hatte er geantwortet. »Sie sind auch gut für das Leben.«
Und durch Yazad hatte er eine. Wenn schon keine ganze, so doch das Bruchstück einer Seele. Und Yazad hatte ebenfalls etwas von ihm bekommen. Er hatte 1564 das Licht der Welt erblickt, im Todesjahr von Michelangelo und im Geburtsjahr von Shakespeare und Galileo, zu einer Zeit, als die Menschen die Erde noch für den Mittelpunkt des Universums hielten. Seitdem waren über vierhundert Jahre vergangen, und Yazad lebte noch immer.
Solche Langlebigkeit war ein zweifelhafter Segen, wie sie beide noch erfahren würden.
Mihai war in seinem eigenen Körper nach Kaschmir zurückgekehrt und hatte den Jungen gefunden, in dessen Seele er gelebt hatte. Beim Wiedersehen hatte er ein Gefühl, als hätte er ein Stück von sich selbst wiederbekommen, und Yazad empfand das Gleiche. Sie waren miteinander verwandt, ja, mehr sogar als verwandt. Sie hatten ein einziges Wesen dargestellt, und zusammen fühlten sie sich als Ganzes.
Hathra.
Von da an waren sie gemeinsam auf Reisen gegangen, ein Jahrhundert ums andere. Yazad war es dabei gut ergangen. Mithilfe von Mihais Magie war er nicht nur zu Reichtum gelangt, sondern auch zu einem großen Gelehrten geworden. Er hatte Artefakte und Wissen gesammelt, hatte die Kräuterbehandlungen gelernt, die die Druj bei ihren menschlichen und tierischen Lieblingen einsetzen, dazu sogar einige Tiersprachen, und er hatte ein Vermögen in Gold angehäuft. Mit einhundertfünfzig Jahren war er noch immer ein junger Mann gewesen und hatte eine Mogulprinzessin geheiratet. Ihr Vater hatte die Hochzeit verboten und sie im Palast eingesperrt, doch Mihai hatte zwei riesige Reptilien, Warane, zu ihr geschickt, die an der Mauer hinaufgeklettert waren, die Prinzessin hinuntergetragen hatten und mit ihr durch die Wüste geflohen waren. Die ruhige Sahar hatte Yazad Söhne und Töchter geschenkt, und alle waren bereits gestorben, ehe Yazads Bart die ersten grauen Haare bekam. Auf diese Weise hatte ihn die große Bitterkeit des langen Lebens eingeholt – nämlich alle, die man liebt, zu überdauern.
Als Mihai daran dachte, sich eine neue ungeborene Seele zu suchen, mit der er sich verbinden könnte, versprach ihm Yazad seine Hilfe, aber nur unter einer Bedingung: Der neue Wirt dürfe niemals die gleiche
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