Der verbotene Kuss
Russland begegnet.
Mihai suchte manchmal verlassene, öde Orte auf, wenn er ein wenig aus dem Leben fliehen wollte, das er für sich gewählt hatte, mit diesem Wirrwarr an Gefühlen und diesem Tanz der Beinahe-Erinnerungen, die sich ihm eine nach der anderen eröffneten. Er hatte in dreizehn menschlichen Wirten gelebt und war mit allen im Hathra verbunden − jeder war ein Teil von ihm wie das Blut in seinen Adern. Er lachte und weinte mit ihnen und half bei der Suche nach Namen für ihre Kinder, er wusste, wovon sie träumten und half ihnen dabei, es zu erreichen. Und aufgrund der Magie, die er mit Yazad erschaffen hatte, mussten sie ihre langen Leben nicht allein verbringen. Ihre Langlebigkeit teilten sie nämlich unten denen auf, die sie wahrhaft liebten – ihren Seelenfreunden, ihren Kindern –, von denen jeder eine Anzahl Jahre erhielt, damit sie zusammenblieben. So mochte ihr Leben vielleicht nicht so lange dauern wie das von Yazad, war dafür jedoch erfüllter.
Mihai hatte sich eine Art Seele zusammengestückelt, aber er wusste nicht, was er war . Der Nebel der Erinnerung lichtete sich langsam und war kaum mehr als ein Schleier, und dahinter lauerte etwas, das sich beständig bewegte, lockte und sich ihm wieder entzog. Es ermüdete ihn und strengte ihn an, hindurchzusehen.
Einem Impuls oder seinem Instinkt folgend war er im Kaukasusgebirge gelandet, und es war ihm wie ein unwirklicher Zufall erschienen, als er nach einigen Tagen in der Stille plötzlich Wolfsgesang der Druj gehört hatte. Sie waren in seine Richtung unterwegs. Er hätte sich verstecken können, tat es jedoch nicht. Stattdessen wartete er, und schon bald sprangen die schwarzen Gestalten schimmernd aus dem Wald, und hinter ihnen glitt der Schlitten der Königin dahin, vor den riesige Ziegen mit Hörnern wie Schwerter gespannt waren.
Binnen weniger Augenblicke hatten sie ihn erreicht, und die Wölfe knurrten und schnappten nach ihm. Die Königin blickte ihn an, und seine Seele verzagte. Er hatte sie seit Jahrhunderten nicht gesehen, nicht mehr seit seinem Aufbruch von Herezayen. Aber als er sie nun anschaute, stiegen tiefere, ältere Visionen in ihm auf, Erinnerungen, die im Nebel verloren gewesen waren, als sie sich in Herezayen getroffen hatten.
Sie begegnete seinem Blick, doch drückten ihre halb geschlossenen, hellen Augen Desinteresse aus. Zu den Wölfen sagte sie: »Jäger, erkennt ihr nicht euresgleichen?« Daraufhin zogen sie sich zurück, obwohl sie weiterhin die Zähne fletschten. Ihr Blick wich nicht von Mihais Gesicht. »Ist das nicht unser Vetter aus dem hohen Herezayen, dieser Naecish? Der verschollen ist?«
Mihai erstarrte. Naecish. Das bedeutete niemand . Nichts. So nannten die Druj ihre Verbannten. Und Verbannte, das war bekannt, wurden häufig getötet. Die beiden größten Wölfe – Erezav und Isvant – knurrten leise und geiferten, und Mihai dachte, sie würden ihre Zähne gern in seine Kehle senken. Er blickte wieder die Königin an, doch in ihren kalten Augen fand er keine Gnade. Er konnte sich in einen Falken flüstern und versuchen zu fliehen, aber vermutlich würde er diese Federn dann bis in alle Ewigkeit tragen müssen; er hatte niemanden, der ihn zurückflüstern würde. Er konnte ein Fenster in der Luft öffnen und hindurchfliehen, aber sie würden ihm folgen. Im Vergleich zu den Kräften der Königin waren seine eigenen lächerlich. Sie könnte ihn auch durch Flüstern töten, wenn sie wollte.
Er ging auf ein Knie nieder und neigte den Kopf. »Mazishta«, sagte er. »Ich bin nicht verschollen, sondern auf die Jagd nach neuem Wild gegangen. Deshalb bin ich kein Verbannter. Ich bin ein Wanderer im Nebel.«
»Im Nebel«, sagte sie und verstand gar nichts.
»Im Nebel, der unsere Erinnerungen verschleiert, Königin. Wie sich herausgestellt hat, ist er überhaupt nicht … undurchdringlich.«
In ihren Augen flackerte Interesse auf, während sie ihn anstarrte. Mihai glaubte, sie versuche, ihr Verlangen, ihn zu fragen, was er meine, im Zaum zu halten, als würde sie mit Neugier eine Schwäche offenbaren. Stattdessen schnurrte sie nur: »Gewiss.«
Er neigte den Kopf leicht, schaute ihr jedoch unentwegt in die Augen.
Auf ihrem Schlitten bewegte sich etwas, und Mihai hörte ein Wimmern. Der kalte Blick der Königin wandte sich der Störung zu, Mihai ebenso. Er sah einen rothaarigen Jungen, der in Fell gehüllt und an Armen und Beinen gefesselt war und der die Augen vor Angst weit aufgerissen hatte. Die Miene der
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