Der verbotene Kuss
konnte er seine sorgsam gewahrte Maske nicht aufrechterhalten, und er konnte ihr von den großen Augen ablesen, dass sie sein wahres Gesicht gesehen hatte: gehetzt, hungrig und getroffen von der plötzlichen Erinnerung an etwas, das sie nicht ergründen konnte. Liebe. Er erwartete, sie würde voller Abscheu vor ihm zurückweichen, was sie jedoch nicht tat.
Sie küsste ihn.
Sie lehnte sich zu ihm vor, geschmeidig wie ein Raubtier, setzte ihre Lippen auf seine und ließ sie dort. Sie imitierte die Küsse, die sie beobachtet hatte. Zunächst hatte es nichts Sinnliches an sich, es war lediglich die züchtige Berührung von Haut. Aber dann teilten sich ihre Lippen, ganz leicht, und Mihai spürte wie sie zitterte. Für einen Moment ging der Schatten ihrer Küsse über ihn hinweg, Küsse aus einem längst vergangenen Leben, als sie sich mit Leib und Seele geliebt und ineinander verschlungen geschlafen und durch ihr Fleisch ihre Träume geteilt hatten, um hernach im Dunkeln zu erwachen und das langsame Drängen der Lust zu verspüren.
Ehe sie die Königin der Druj geworden war, hatte sie Mahzarin geheißen und war die Seine gewesen. Vor langer, langer Zeit hatte sie ihren kleinen Fuß um sein Bein gehakt und ihn auf sich gezogen. Er hatte ihr sanft ins Ohrläppchen gebissen und die Senke an ihrer Kehle erkundet, hatte durch die Haut ihres prallen Bauchs gesungen, während seine Tochter in ihr heranwuchs. Ihr schwarzes Haar war jede Nacht auf sein Kissen gefallen wie ein Schatten, und er schlief darauf ein und erwachte darauf wieder. Er erinnerte sich, wie sich ihre Haut angefühlt hatte, als sie menschlich gewesen war und warm, nicht unsterblich und eiskalt.
Aber sie würde sich daran nicht erinnern. Und sie würde es nicht glauben.
Ihr Atem bebte, und dann riss sie die Augen auf und floh vor dem Kuss. Ihr Blick verriet Faszination und einen Hauch von Zweifel. Sie starrte seine Lippen an, hob den Zeigefinger, zögerte und berührte seinen Mund dann so kurz, als könnte sie sich daran verbrennen. »Deine … deine Lippen sind warm «, stotterte sie. »Wie das?«
Mihai bekam keine Gelegenheit, zu antworten. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung war und sah gerade in dem Moment auf, als Isvant sich mit einem weiten Satz auf ihn stürzte. Im Absprung war er noch Mensch, doch in der Luft verwandelte sich seine Haut in Fell. Als er Mihai packte, war er ein Wolf mit scharfen Krallen und gefletschten Zähnen. Die beiden taumelten rückwärts in die Flucht und tauchten im schwarzen Wasser unter.
Mihais Blut drang als Erstes wieder an die Oberfläche.
– FÜNFZEHN –
Vollmond
E r lebte. Einen Druj tötet man nicht so leicht. Dazu ist nur Feuer in der Lage, oder man muss ihm den Kopf vom Hals trennen. Isvant riss Mihai jedoch lediglich die Brust vom Schlüsselbein bis zum Nabel auf und versenkte seine Zähne in seinem Schultermuskel. Das war nicht gerade angenehm, stellte jedoch keine Lebensgefahr für Mihai dar. Nachdem er sich aus dem Fluss gezogen hatte, flüsterte er die Wunden zu, wischte sein Blut mit Schnee ab und erhob sich, um sich in seine Kleidung zu mühen.
Die Königin kam zu ihm, stand kurz vor ihm und blickte ihn an. Sie war groß; sie befanden sich auf gleicher Augenhöhe, und Mihai sah sie zögern, ehe sie rasch die Hand ausstreckte und seine Lippen erneut berührte. Da verschwand die Sorge aus ihren Augen. Seine Lippen waren so kalt wie der Fluss, so wie die Haut von Druj sein sollte, und sie machte auf dem Absatz kehrt. Sie ging zu ihrem Schlitten und hielt nur kurz inne, um ihrem Menschenjungen durch das rote Haar zu streichen.
Sie erwähnte den Kuss nicht mehr und auch die Erinnerungen nicht, die er freigesetzt hatte – falls er bei ihr überhaupt welche ausgelöst hatte. Bei Mihai hatte er das schon. Er schaute sie über den Schnee hinweg an und konnte sie sich so gut vorstellen, wie sie vor vielen Jahrhunderten ein schwarzhaariges Mädchen auf jeder Hüfte balanciert hatte. Arzu und Lilya hatten die beiden Zwillingstöchter geheißen. Wunsch und Lilie . Mihai wollte ihr erzählen, dass sich ihr Körper an das Gewicht der Kinder von ihrem eigenen Fleisch und Blut erinnerte, aber er tat es nicht. Sie war jetzt nicht mehr Mahzarin. Sie war die Königin der Druj, nur das seelenlose Echo jener Frau, die sie einst gewesen war. Und überhaupt erhielt er keine weitere Gelegenheit. Sie kam nicht mehr in seine Nähe.
Die Reise nach Tajbel ging weiter, und ihr Schlitten glitt, von den Wölfen flankiert,
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