Der verbotene Kuss
nach London gefahren? Welche Art von Geschäft war so dringend gewesen? Und wieso war er zurückgekommen?
Einige Antworten konnte Felicity erraten. Sein Besuch in London konnte mit ihrer Kolumne Zusammenhängen. Am Montag hatte sie den Text per Eilboten an Mr. Pilkington geschickt. Zweifellos war der Artikel in der Evening Gazette erschienen, als Lord St. Clair sich in London aufhielt. Also musste er ihn gelesen haben.
Es sei denn, er hatte dafür gesorgt, dass der Text nicht veröffentlicht wurde. Immer wieder dachte Felicity über seine Drohung nach. Sie konnte nur schlussfolgern, dass er die Absicht gehabt hatte, Mr. Pilkington durch Bestechung zu bewegen, ihren Text entweder zu redigieren, oder die Veröffentlichung zu untersagen. Die Frage war, was Mr. Pilkington zu einem so verabscheuenswerten Angebot gesagt haben mochte.
Bestimmt war er nicht geneigt gewesen, sich von Felicity zu trennen. Schließlich hatte er stets gesagt, sie sei seine beste Kolumnistin.
Andererseits . . . auch Mr. Pilkington hatte seinen Preis.
Sie warf einen Blick zum Himmel. „Kannst Du mir keinen Hinweis geben, lieber Gott?“ murmelte sie. „Der Vis-count muss etwas im Sinn haben. Gott weiß . . . ich meine, Du weißt, dass er genug Geld hat, um Mr. Pilkingtons Gier zu wecken. Ich glaube kaum, dass meine schriftstellerischen Fähigkeiten Mr. Pilkington zu meinen Gunsten beeinflussen können, wenn Lord St. Clair ihn mit Gold bombardiert.“
„Mit wem reden Sie?“ fragte eine Frau von der Tür her. Vor Schreck zuckte Felicity zusammen.
Sara kam mit ihrem Mann, dem Earl und der Countess of Blackmore und, was das Schlimmste war, dem Viscount ins Zimmer. Nur der Marquess und die Marchioness of Dryden fehlten.
Felicity sprang auf, und das Buch fiel ihr vom Schoß. Es plumpste auf den Fußboden. „Ich habe mit niemandem geredet.“ Die Hitze stieg ihr ins Gesicht. Oh, dabei ertappt worden zu sein, dass sie sich wie eine Närrin aufführte, noch dazu vor diesen Leuten und besonders vor dem Viscount. Wie viel hatten sie gehört? Wie viel hatte er gehört? „Ich meine, ich habe diese schlechte Angewohnheit, mit mir zu reden, wenn ich abgelenkt bin.“
„Lenken wir Sie ab, Miss Taylor?“ fragte Ian, während er an Sara vorbeiging. Rasch hob er das Buch auf. Als Miss Taylor danach griff, ignorierte er ihre ausgestreckte Hand und klemmte es sich unter den Arm. „Das war nicht unsere Absicht.“ Seine Stimme hatte belustigt geklungen. Zweifellos hatte er präzis erraten, warum Felicity nicht beim Essen gewesen war.
Erraten. Und nun war er sehr mit sich zufrieden. In der Tat, er sah ekelhaft selbstsicher aus. Er war so exquisit gekleidet, dass Felicity sich neben ihm und den anderen, ebenso eleganten Herrschaften in ihrem Musselinkleid und mit dem alten Wollschal wie eine armselige Bettlerin vorkam.
„Es freut uns zu sehen, dass Sie nicht im Bett liegen“, fuhr Ian fort. „Wir hatten geglaubt, Sie seien krank geworden. Kopfschmerzen. Jedenfalls hat Sara uns das erzählt.“
„Ja, Miss Taylor hatte furchtbare Kopfschmerzen“, warf Sara hastig ein. „Du hättest sie vorhin sehen sollen. Beim Spaziergang ist sie beinahe ohnmächtig geworden.“ Der Blick, den sie Miss Taylor zuwarf, war sehr bedeutungsvoll. Er schien zu besagen, es täte ihr Leid, dass sie nicht von Felicitys Anwesenheit im Spielsalon gewusst habe und
sie genötigt gewesen war, Kopfschmerzen als Grund für die Abwesenheit bei Tisch zu erfinden.
Felicity war gerührt, und ihre ohnehin schon großen Schuldgefühle, Sara nicht die volle Wahrheit über den Zwischenfall am Ballabend gesagt zu haben, wurden noch stärker. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, sie in die Irre zu führen. Als Lady Worthing und Lady Brumley sie dabei überrascht hatten, wie sie in ihrem Zimmer einen boshaften Artikel schrieb, hatte sie versucht, die Damen loszuwerden.
Das war vergebens gewesen. Schließlich war sie unbedacht damit herausgeplatzt, dass Lord St. Clair sie nicht nur geküsst hatte. Die überzogene Entrüstung Lady Worthings hatte ihr dann bewusst gemacht, wie falsch ihre Bemerkung interpretiert wurde. In Anwesenheit von Lady Brumley hatte sie jedoch nicht gewagt, den entstandenen Eindruck richtig zu stellen.
Nun, zumindest jetzt durfte sie Lady Worthing nicht in den Rücken fallen. „Ich hatte Kopfschmerzen. Nachdem ich jedoch ein Weilchen geschlafen habe, waren sie weg. Daher bin ich hergekommen, um mir ein Buch zum Lesen zu holen, und habe dann diesen entzückenden
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