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Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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ich habe schließlich hundertachtunddreißig Straßenkämpfe auf meinem Konto, die Kindheit nicht mal mitgerechnet. Also, immerhin.«
    »Sagen Sie deshalb das Gegenteil von den Nachbarn? Weil die Sie nicht mögen?«
    Die Frage überraschte Émile.
    »Es ist mir egal, ob man mich mag. Ich weiß eben nur viel mehr über Vaudel als sie. Dabei bin ich denen nicht böse, es ist normal, dass sie mich fürchten. Ich bin ein Gewalttäter der übelsten Sorte. Das sagte Vaudel«, fügte er mit einem kleinen Lachen hinzu, zwei Zahnlücken entblößend. »Er übertrieb, denn ich habe nie jemanden umgebracht. Was dagegen alles Übrige angeht, da hatte er schon nicht unrecht.«
    Émile holte ein Päckchen Tabak heraus und drehte sich geschickt eine Zigarette.
    »Und wie lange haben Sie für alles Übrige gesessen?« »Elfeinhalb Jahre, in sieben Durchgängen. Das macht einen Mann fertig. Na ja, seit ich über die fünfzig hinaus bin, ist es besser geworden. Ein paar Schlägereien hier und da, aber viel weiter geht’s nicht. Ich hab es teuer bezahlt, so kann man sagen: keine Frau, keine Kinder. Ich liebe Kinder, aber ich wollte keine. Wenn man auf alles draufhaut, was sich bewegt, einfach so, ohne allen Grund, kann man dieses Risiko nicht eingehen. Ist normal. Das war ein weiterer Punkt, den wir gemeinsam hatten, Vaudel und ich. Auch er wollte keine Kinder. Also, so sagte er das nicht. Er sagte: ›Keine Nachkommenschaft, Émile.‹ Und dabei hat er gegen seinen Willen doch ein Kind gehabt.« »Wissen Sie, warum?«
    Émile zog an seiner Zigarette und warf Adamsberg einen erstaunten Blick zu.
    »Na, weil er sich nicht vorgesehen hat.« »Warum wollte er keine Nachkommenschaft?« »Er wollte keine. Was ich mich frage, ist, was wird jetzt aus mir. Kein Job mehr, kein Dach überm Kopf. Ich habe im Schuppen gewohnt.«
    »Und hatte Vaudel keine Angst vor Ihnen?« »Er hatte noch nicht mal Angst vorm Tod. Er sagte immer, das einzig Blöde am Tod sei, dass er zu lange dauert.« »Hatten Sie nie das Bedürfnis, ihn zu verprügeln?« »Am Anfang schon, manchmal. Aber dann spielte ich doch lieber eine Partie Morpion mit ihm. Das habe ich ihm beigebracht. Ein Mann, der nicht mal Morpion spielen kann, ich hätte nicht gedacht, dass es so was gibt. Ich kam abends ins Haus, zündete das Feuer im Kamin an, goss zwei Guignolet ein. Kirschlikör ist nicht jedermanns Sache, Vaudel hat mich erst auf den Geschmack gebracht. Wir stellten den Tisch auf, und los ging’s.« »Wer gewann?«
    »Zwei von drei Malen er. Denn er war schlau. Und vor allem hatte er sich ein ganz spezielles Morpion ausgedacht, auf Blättern von einem Meter Länge. Ich hoffe, Sie können sich vorstellen, wie schwer das ist.«
    »Ja.«
    »Gut. Er wollte noch größere nehmen, aber ich war dagegen.«
    »Tranken Sie viel zusammen?«
    »Nur die beiden Guignolet, er ging nie darüber hinaus. Was mir fehlt, sind die Strandschnecken, die wir dazu aßen. Er bestellte sie immer freitags, wir hatten jeder unsere kleine Schneckengabel. Ich die mit der blauen Kugel, er die mit der orangefarbenen, wir wechselten nie. Er sagte, ich würde ...«
    Émile rieb sich seine krumme Nase auf der Suche nach dem Wort. Adamsberg kannte diese Suche nach einem Begriff.
    »Ich würde nostalgisch werden, wenn er tot wäre. Ich lachte darüber, mir fehlt niemand. Aber er hatte recht, er war eben schlau. Ich bin nostalgisch.«
    Es schien Adamsberg, dass Émile sich diesen komplizierten Zustand und dieses neue Wort, um ihn zu bezeichnen, mit einigem Stolz zu eigen machte.
    »Wenn Sie zuschlagen, haben Sie dann getrunken?«
    »Eben nicht, das ist ja das Problem. Manchmal trinke ich hinterher was, um die Erregung, die von der Schlägerei noch in mir steckt, runterzuspülen. Denken Sie nicht, ich bin nicht bei Ärzten gewesen. Sicher war ich das, wohl oder übel, und bei einem guten Dutzend. Nicht einer hat was gefunden. Sie haben bei meinem Vater und bei meiner Mutter gesucht – nichts. Ich war ein glückliches Kind. Darum sagte Vaudel: ›Dagegen kann man nichts machen, Émile, es ist eine Frage der Brut.‹ Wissen Sie, was das ist, eine Brut?«
    »So ungefähr.«
    »Aber genau?«
    »Nein.«
    »Ich, ja, ich habe nachgesehen. Es ist eine üble Saat, die wuchert. Sie verstehen. Darum war es sinnlos, dass er und ich, dass wir versuchten, so zu leben wie andere Leute. Wegen unserer Brut.«
    »War Vaudel denn auch eine Brut?«
    »Aber natürlich«, sagte Émile verärgert, so als wenn Adamsberg sich keinerlei Mühe

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