Der verbotene Ort
ihre hundertzehn Kilo in die Höhe und sprang über das Mäuerchen.
»Bitte sofort Verstärkung«, rief Adamsberg in sein Sprechfunkgerät. »Verdächtiger in Richtung West-Südwest entkommen. Gesamten Umkreis abriegeln.«
Später – aber die genaue Antwort sollte er nie erfahren – fragte er sich, ob er auch genügend Überzeugung in seine Stimme gelegt hatte.
Mordent lag hechelnd und stöhnend zu seinen Füßen und hielt sich den Schritt, die Tränen liefen ihm übers Gesicht. In einer unwillkürlichen Geste beugte sich Adamsberg über ihn und schüttelte ihm zum Zeichen des Mitgefühls vage die Schulter.
»Verhängnisvoll, Ihr Vorgehen, Mordent. Ich weiß nicht genau, worauf Sie hinauswollen, aber machen Sie’s beim nächsten Mal besser.«
10
Gestützt vom Kommissar, hinkte Mordent zur übrigen Mannschaft hinüber. Lamarre war von Lieutenant Froissy abgelöst worden, die sich sofort um die Verpflegung gekümmert und auf dem Tisch im Garten das Mittagessen angerichtet hatte. Auf Froissy war Verlass, sie versorgte die Truppe wie in Kriegszeiten. Mager und ständig hungrig, war Essen für sie zu einer Obsession geworden, die sie dazu geführt hatte, überall in der Brigade Verstecke für Lebensmittel anzulegen. Man vermutete, dass diese sogar zahlreicher waren als Commandant Danglards geheime Plätze für Weißwein. Manche meinten, dass man noch in zweihundert Jahren, tief unter den Geheimnissen des Gebäudes verborgen, auf Essbares stoßen würde, während Danglards Weinflaschen dann schon längst ausgetrunken wären.
Lieutenant Noël hatte so seine Ansicht über Froissy. Noël war der brutalste Mitarbeiter des Teams, vulgär gegenüber Frauen, primitiv im Umgang mit Männern, voller Verachtung für Tatverdächtige. Er verursachte mehr Ärger, als er Gutes bewirkte, doch Danglard hielt seine Anwesenheit für notwendig, da Noël seiner Meinung nach katalysierte, was jeder Bulle an Schlechtem in sich trüge, und dass er den anderen so erlaubte, besser zu sein. Noël spielte bereitwillig diese Rolle. Seltsamerweise aber war er besser als jeder andere über die innersten Geheimnisse seiner Kollegen informiert. Sei es, dass seine primitive Art, andere anzusprechen, die Dämme brach, sei es, dass man keine Scheu empfand, ihn einen Blick auf seine dunklen Wasser werfen zu lassen, zumal er ausgewiesener Spezialist dafür war. So behauptete Noël also, dass Lieutenant Froissys Vorratssyndrom daher rührte, dass, als sie ein Baby war, ihre Mutter bewusstlos umgefallen war und sie vier Tage nicht gestillt hatte. So dass Froissy, schloss er feixend, immer noch die mütterliche Brust suchte und sie gleichzeitig gab, weshalb nicht ein einziges Kilo davon an ihr hängenblieb.
Es war fünfzehn Uhr, man musste den Zeitpunkt der Sättigung abwarten, damit die Beamten sich wieder belebten und fragten, was eigentlich draußen vorgefallen war. Man wusste, dass Retancourt einen Kerl verfolgte – was für die Zukunft des Kerls nichts Gutes verhieß –, eskortiert von einer Brigade aus Garches, drei Autos und vier Motorrädern. Aber sie ließ nichts von sich hören, und Adamsberg hatte gerade hinzugefügt, dass sie die Verfolgung mit über drei Minuten Verspätung und einem lädierten Solarplexus aufgenommen hatte. Und dass dieser Kerl, Émile der Schläger, elf Jahre Knast und offiziell hundertachtunddreißig Straßenkämpfe, durchaus das Format hatte, Retancourt abzuhängen. Dann berichtete er, ohne Einzelheiten zu erwähnen, von dem Disput zwischen ihm und Mordent, der die Flucht des Verdächtigen zur Folge hatte. Niemand kam auf den Gedanken, zu fragen, warum Émile nicht auch den Kommissar geschlagen hatte, noch warum Adamsberg nicht gleichfalls die Verfolgung aufgenommen hatte. Da Retancourt zweimal so schnell lief wie jeder Mann in der Brigade, fand alle Welt es normal, dass man sie allein hatte losrennen lassen. Mordent säuberte seinen Teller, sichtlich düster gestimmt, was man seiner Sorge um den Zustand seiner Hoden zuschrieb. I n Émiles Akte, die man flüchtig überflogen hatte, war niemandem entgangen, dass der Schläger einem Rennfahrer mit einem einzigen Stoß des Ellbogens die Männlichkeit zerstört hatte. Ein Zweikampf, der allein ihm ein Jahr Gefängnis eingebracht hatte sowie Schadensersatzforderungen, die er bisher nicht hatte einlösen können.
Adamsberg beobachtete, wie seine Beamten zweifelten, tasteten, zögerten zwischen instinktiver Solidarität mit ihrem Kollegen, der in seinen
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