Der verbotene Ort
ihm wieder in den Sinn kam, seine beiden zueinander gewölbten Hände mit den gespreizten Fingern, wie er die Größe des Hundes beschrieb. Nicht größer als so. Adamsberg stützte sich auf ein Knie und lauschte auf die anhaltende Klage. Nicht größer als so. Sein Hund.
Mit langsamen Schritten ging er auf den Klagelaut zu. In drei Metern Entfernung erkannte er die kleine weiße Masse des Hundes, sein aufgeregtes Hin- und Hergerenne um einen Körper.
»Émile, verdammt!«
Adamsberg hob ihn an einer Schulter an und legte seine Finger in die Halsbeuge. Er hatte Puls. Durch die Risse in der Hose leckte der Hund fieberhaft den Bauch des Mannes, wandte sich zu seinem Schenkel, leckte auch den und ließ immer wieder sein jämmerliches Jaulen hören. Er unterbrach sich, um Adamsberg zu beobachten, gab ein Kläffen von sich, das zu besagen schien: Junge, bin ich froh, dass ich Hilfe kriege. Dann kehrte er zu seiner Aufgabe zurück, zerrte an dem Hosenstoff, leckte den Schenkel, als wollte er so viel Speichel wie möglich darauf hinterlassen. Adamsberg schaltete seine Stablampe ein, beleuchtete Émiles Gesicht, das schweißnass und schmutzverklebt war. Émile der Schläger, gefallen, besiegt, Geld macht auch nicht glücklich.
»Sprich nicht«, befahl Adamsberg.
Émiles Kopf in seiner linken Hand haltend, ließ er seine Finger sanft unter den Schädel gleiten, tastete von oben nach unten, von vorn nach hinten. Keinerlei Verletzung.
»Schließ die Augenlider, wenn du ›ja‹ sagen willst. Spürst du deinen Fuß? Ich drücke jetzt drauf.«
»Ja.«
»Den anderen? Ich drücke drauf.«
»Ja.«
»Siehst du meine Hand? Weißt du, wer ich bin?«
»Der Kommissar.«
»Genau, Émile. Du bist am Bauch und am Bein verletzt. Erinnerst du dich an alles? Hast du dich geschlagen?«
»Nicht geschlagen. Auf mich ... geschossen. Vier Schüsse, zweimal getroffen. Dort hinten beim Wasserturm.«
Émile wies mit dem Arm nach links. Adamsberg sah in die Dunkelheit, machte seine Lampe aus. Der Wasserturm stand etwa hundert Meter vor dem Waldstück, das Émile vermutlich durchquert hatte, als er sich zu dem Gatter schleppte und es fast erreicht hatte. Der Schütze konnte wiederkommen.
»Wir haben keine Zeit, auf einen Krankenwagen zu warten. Wir hauen hier schleunigst ab.«
Adamsberg befühlte in Eile den Rücken.
»Du hast Glück gehabt, die Kugel ist an der Seite raus, ohne die Wirbelsäule zu streifen. In zwei Minuten bin ich mit dem Wagen hier. Sag deinem Hund, er soll aufhören zu jaulen.«
»Still, Cupido.«
Adamsberg parkte den Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern so nahe wie möglich bei Émile und klappte die Rückenlehne des Beifahrersitzes herunter. Auf dem Rücksitz hatte jemand einen beigefarbenen Trenchcoat liegen lassen, sicher war es der von Lieutenant Froissy. Er zerschnitt ihn mit mehreren Messerstichen, riss die Ärmel heraus, löste zwei lange Bahnen ab, stieß auf die Innen- und die Außentaschen, sie waren randvoll gefüllt. Adamsberg schüttelte sie in die Nacht, sah Dosen mit Pastete, Trockenfrüchte, Kekse herausfallen, eine halbe Flasche Wasser, Bonbons, einen Viertelliter Wein im Tetrapak und drei Minifläschchen Cognac, wie man sie in Zugbistros findet. Eine Regung von Mitleid für den Lieutenant überkam ihn, dann von Dankbarkeit. Froissys neurotische Vorräte würden noch von Nutzen sein.
Der Hund hatte aufgehört zu bellen, gab die Wunden frei und ließ Adamsberg heran, gleichsam als Ablösung. Adamsberg beleuchtete kurz die Bauchverletzung, die bereits ganz sauber war, Cupidos Zunge hatte die Ränder perfekt gereinigt, den Hemdstoff weggezogen, die Erde abgeleckt.
»Er hat ganze Arbeit geleistet, dein Hund.«
»Der Speichel eines Hundes ist antiseptisch.«
»Wusste ich nicht«, sagte Adamsberg, während er die Wunden mit den Stoffbahnen umwickelte.
»Du weißt nicht gerade viel, scheint mir.«
»Und du? Weißt du, wie viele Arme Shiva hat? Ich wusste immerhin, dass du heute Abend hier sein würdest. Ich werde dich tragen, versuch nicht zu schreien.«
»Ich komme um vor Durst.«
»Später.«
Adamsberg bettete Émile in den Wagen, streckte vorsichtig seine Beine aus.
»Weißt du was?«, sagte er. »Wir nehmen den Hund mit.«
»Ja«, sagte Émile.
Adamsberg fuhr ohne Licht fünf Kilometer weit, dann hielt er bei laufendem Motor am Eingang eines Weges. Er schraubte die Flasche Wasser auf, zögerte jedoch.
»Nein, ich kann dir nichts zu trinken geben«, sagte er. »Stell dir vor,
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