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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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von Innen- und Außenwelt mehr durcheinandergeraten, als ich überhaupt ahnte …?
    Ein Regentropfen platschte auf das Uhr-Ei. Er bildete eine wässrige Lupe, die meinen Blick wie magisch anzog. In der Vergrößerung erkannte ich die zum Stillstand gekommenen sieben Halbschalen im Herzen des kosmischen Mechanismus. Auf der spiegelnden Hülle der äußeren Sphäre meinte ich, die Umrisse des europäischen Kontinents auszumachen. Sicher nur eine Blüte meiner Fantasie; die Sphären waren viel zu klein, um dergleichen zu erkennen.
    Weitere Tropfen fielen herab.
    Der Wolf reckte die Schnauze zum Himmel. Ein bedrohliches Knurren kam aus seiner Kehle.
    Mit einem Mal prasselte ein richtiger Platzregen auf uns nieder. Eilig zogen wir uns an eine geschützte Stelle zurück, wo die eiserne Felsenkluft tief in den Bauch von Mekanis hineinreichte. Ich hoffte nur, dass aus dem Schauer kein Sturzbach würde. Dann konnte der Spalt nämlich zur tödlichen Falle werden.
    »Gibt es solche Wetterumschwünge hier öfters, Lykos?«
    »Nein«, brummte der Wolf. »Aber seit du zu uns gekommen bist, geschehen lauter seltsame Dinge.«
    »Wie meinst du das?«
    »Es hat noch nie in Mekanis geregnet. Hoffentlich rostet unsere Welt nicht ein.«
    Der Regen hatte aufgehört. Ich saß auf einem Eisenstein am Rande der Spalte und blickte müde zum Horizont. In der vergangenen Nacht hatte ich kaum geschlafen. Wenigstens war mein Durst gelöscht; das Wasser in den Lachen hatte unangenehm nach Eisen geschmeckt.
    Die Sonne ging gerade auf. Ihr Auftritt hinter den bleigrauen Wolken war dramatisch. Ein mechanischer Hase hoppelte in perfekten gleichförmigen Zickzacksprüngen vorbei. Vögel trillerten einen beklemmend kühl anmutenden Gesang. Von Lykos fehlte jede Spur.
    Der Wolf hatte mich kurz vor Tagesanbruch durch Pfützen und Eisenschlamm zu einer Stelle geführt, die uns den Aufstieg aus dem Spalt ermöglichte. Danach war er in der Finsternis verschwunden. Wahrscheinlich hat er seine Ankündigung wahr gemacht und ist längst über alle Berge, dachte ich.
    Missmutig starrte ich das Uhr-Ei in meiner linken und den Schlüssel in der rechten Hand an. Ob Poseidonios immer noch darin gefangen war? Wohl eher nicht. Jetzt war Mekanis ja draußen und die Menschenwelt drinnen. Mir schwirrte der Kopf. Von dieser Umstülperei hatte der Philosoph nie etwas erwähnt. Was passierte mit dem irdischen Leben, während das winzige Räderwerk stillstand? War es ebenfalls erstarrt?
    Der Gedanke verursachte mir eine Gänsehaut. Ich sollte dringend einen Weg finden, alles wieder umzukehren und dabei Meister Poseidonios in unsere eigene Welt mit hinüberzunehmen. Die Frage war nur, wie? Das Einfachste wäre sicher, die Uhr erneut aufzuziehen. Aber war es auch das Richtige? Oder würde ich dadurch noch viel größeren Schaden anrichten?
    Ich nahm den vergoldeten Schlüssel und steckte ihn in das dafür vorgesehene Löchlein im Gehäuse. Ehe ich ihn herumdrehen konnte, vernahm ich hinter mir ein Geräusch. Der Wolf!, dachte ich und rief, ohne mich umzudrehen: »Lykos? Bist du zurückgekommen?«
    Plötzlich schoss von rechts ein stählerner Arm in mein Blickfeld, metallische Finger packten das Uhr-Ei und entrissen es meinem Griff.
    Erschrocken fuhr ich herum und sah mich einem Quartett mannsgroßer, gesichtsloser Gliederpuppen gegenüber. Die Eierdiebin stand in der Mitte etwas weiter zurückgesetzt. Eine ähnliche Figur wie die vier, aber viel kleiner und aus Holz, hatte Meister Gruber in seiner Werkstatt.
    »Gib mir das Ei zurück«, sagte ich drohend. Es gelang mir nicht wirklich, das ängstliche Zittern aus meiner Stimme zu verbannen.
    Anstatt darauf irgendetwas zu sagen, vielleicht eine Entschuldigung oder wenigstens eine Ausrede, ging eine der Puppen auf mich los. Ich konnte noch sehen, wie die Eierdiebin herumwirbelte und davonlief, dann musste ich der Angreiferin ausweichen.
    Sie sprang mit vorgerecktem Fuß auf mich zu. Ich warf mich blitzschnell zur Seite. Die Gliederpuppe rauschte um Haaresbreite an mir vorbei.
    Während ich über den Boden rollte, bekam ich einen etwa mirabellengroßen Eisenstein zu fassen. Ich nutzte den Schwung, um wieder auf die Beine zu kommen, und schleuderte den Brocken mit aller Kraft auf die Gegnerin.
    Eigentlich hatte ich auf ihren Kopf gezielt, stattdessen verklemmte sich das Geschoss in ihrem gegliederten Hals. Erstaunlicherweise warf sie der Treffer völlig aus der Bahn. Sie taumelte mit schiefem Haupt zur Seite, verlor das

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