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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Lykos!«, flehte ich. »Mekanis ist mir völlig fremd. Ohne Hilfe werde ich nie die Menschenwelt aus der Uhr befreien können. Ich brauche dich!«
    »Du brauchst … mich? «, wiederholte er überrascht. Anscheinend hatte ihm das noch nie jemand gesagt. Er schien zu einer eisernen Tierskulptur zu erstarren.
    Nach einer Weile bereitete mir seine Reglosigkeit Sorgen. »Lykos? Hörst du mich? Sag doch etwas!«
    Der Wolf blinzelte. Seine goldgelben Augen sahen mich durchdringend an, und er knurrte: »Etwas.«
    »Wie bitte?«
    »Du hast verlangt, ich soll ›etwas‹ sagen.«
    »Das ist nicht lustig.«
    »So war es auch nicht gemeint. Ich muss erst lernen, nicht jedem unsinnigen Befehl zu gehorchen. Und was deine andere Frage betrifft: Du hast mich belebt. Da bin ich dir wohl was schuldig.«
    Unbehaglich blickte ich zu den Zinnen empor – so hatte Lykos wortkarg die Bäume genannt, die wie Tannen aus Zinn aussahen. Ihr Verhalten war gelinde gesagt merkwürdig. Sie bewegten ihre Äste, als seien es Arme, und zeigten in die Richtung, aus der wir kamen. So als wollten sie rufen: Kehrt um!
    Die Mehrzahl der Zinnen stand allerdings ohnehin schon wie Spalierbäume am Wegrand, was meine Verdrossenheit milderte. Auf einem Zweig in der Nähe entdeckte ich ein kupfernes Eichhörnchen, das mit Zinnenzapfen jonglierte. Missmutig stieß ich mit dem Fuß nach einem mechanischen Kupferpilz, dessen gepunktetes Hütchen sich langsam gedreht hatte. Es kullerte über den Waldboden und blieb als lebendige Fliegenpilzhaube liegen. Anscheinend bestand der Daseinskampf aller mekanischen Kreaturen einzig und allein darin, ihren Schöpfer zu entzücken oder ihm wenigstens zu nützen.
    Schöpfer!, schnaubte ich im Stillen. Für mich war dieser Titel eine Lüge, Anmaßung, Gotteslästerung gar. Das Uhr -W erk verdankte seine Existenz schließlich vielen genialen Geistern, die aus dem Buch der Zeit einen kosmischen Mechanismus erschaffen hatten. Wie pflegte Poseidonios zu sagen? Gedanken sind das Blut der Fantasie, und was der Mensch durch sie erschafft, ist der geronnene Saft der Schöpferkraft. Demnach hatte die Weltenformel das schöpferische »Blut« von mindestens fünf Meistern in Wallung gebracht, bevor es zu einer Maschine gerann.
    Und Oros? Er musste die Menschenwelt draußen schon wer weiß wie lange beobachtet haben. Sobald das Uhr-Ei in seine Einflusssphäre gelangt war, hatte er im ganzen Reich seine Häscher mobilisiert, damit sie es für ihn fanden und stahlen. Lykos nannte diesen zwielichtigen Monarchen auch den Herrscher der Zeit. Demnach lebte das Wesen aus dem Mythos von Ys also irgendwo hier in dieser mechanischen Welt. Mir war alles andere als wohl dabei, diesen König von Mekanis mit meinen Problemen behelligen zu müssen.
    Andere Alternativen gab es leider nicht, wie mir der Wolf bei unserem Aufbruch von der Eisenebene zu verstehen gegeben hatte. Automatische Kreaturen täten nämlich nichts aus Habsucht, Gier oder aus sonstigen Gefühlen heraus. Sie hätten gar keine. Eine Gliederpuppe könne nur eine Diebin sein, wenn ihr befohlen wurde, etwas zu stehlen. Und der Einzige, auf den sie hörten, verbrächte seine meiste Zeit in einem beweglichen Bauwerk, ein paar Tagereisen weit entfernt.
    Seit mindestens einer Stunde stapfte ich nun schon hinter dem Wolf her und grübelte. Im Gegensatz zu den anderen Geschöpfen von Mekanis bewegte sich Lykos so geschmeidig wie ein echtes Tier. Dem reinen Augenschein nach war er freilich immer noch eine Maschine. Ständig blickte er zu den Ästen an den Zinnen empor.
    »Wonach guckst du?«, brach ich das lange Schweigen.
    Er wandte im Dahintrotten den Kopf zu mir um. »Wir sind im Ungeheimen Wald . Durchquert jemand diesen Hain, richten sich die Äste wie Wegweiser an seinem Pfad aus – so bleibt hier nichts geheim. Die Uhrendiebin muss es sehr eilig gehabt haben, wenn sie dieses Risiko eingegangen ist.«
    »So wie wir. Unsere Spur kann man jetzt genauso verfolgen.«
    »Deine sowieso. Hast du es noch nicht bemerkt?«
    Selbstverständlich hatte ich das und es trug nicht unbedingt zur Besserung meiner Laune bei. Verdrießlich drehte ich mich um. Meine Fußstapfen waren unübersehbar. Wo ich auf Gras trat, verwandelte es sich in saftiges Grün, wo ich Blumen streifte, blühten sie in den prächtigsten Farben. Ich bemühte mich, meinen Fuß möglichst nur auf sandigen Waldboden oder Eisensteine zu setzen. Letztere hoben sich nach dem Regen rostrot von der Umgebung ab. Ein Gutes hatte meine

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