Der verbotene Schlüssel
innerhalb des Zirkels Kastelle ausmachen, die ihm das Aussehen eines gigantischen Ziffernblattes verliehen.
»Oros’ Wall«, erklärte der Wolf. »Falls deine Augen so weit reichen, wirst du einen Ring erkennen. Er soll dafür sorgen, dass keine ziellos herumstreunenden Maschinenwesen die Ruhe des Herrschers der Zeit stören. Die Mauer ist so glatt wie ein poliertes Schwert.«
»Und sie besteht aus quaderförmigen Segmenten, die sich ruckhaft auf- und abbewegen«, fügte Thaurin hinzu. »Unmöglich, da rüberzuklettern.«
»Können Maschinen herumstreunen?«, fragte ich verwundert.
Die Blicke des Automanten und des Wolfes richteten sich auf Nullus.
»Vielleicht befürchtet der König ja, sein Reich eines Tages verteidigen zu müssen«, bemerkte der Ohnekopf, als fühle er sich genötigt, einen Beweis seines zielstrebigen Denkens zu erbringen.
Ich nickte. »Dazu ist es nun gekommen. Auch wenn die Streitmacht nur vier Köpfe zählt …«
»Drei!«, verbesserte Nullus. »Aber zwölf Beine.«
Der Automantenkrieger sah mich ernst an. »Du kannst dein Uhr-Ei nur zurückgewinnen, Theo, wenn wir uns Zugang zum Land im Kreis verschaffen. So nennen wir das Gebiet innerhalb von Oros’ Wall. Davon trennt uns nicht nur die Mauer, sondern noch ein anderes Hindernis.« Er zögerte.
»Welches?«
»Das Tal der Gebeine «, knurrte Lykos.
»Es ist ein Friedhof der Maschinen«, fügte Nullus hinzu. Seine sonst so durchdringende Quietschstimme klang düster wie das Ächzen geschundenen Metalls. »Wen Oros nicht mehr braucht, den lässt er dort abladen. Wer kaputtgeht, landet ebenfalls da. Kein Geschöpf dieser Welt würde freiwillig durch dieses Tal wandern.«
»Wieso?«, wunderte ich mich. »Euresgleichen hat doch keine Gefühle. Demnach dürftet ihr auch keine Furcht kennen.«
Die Gefährten hüllten sich in kollektives Schweigen.
Scheuten sie den Kontakt mit ihren funktionslosen Artgenossen aus einer fest eingebauten Urangst heraus? Ich blinzelte mich in die Wirklichkeit zurück und versuchte, Zuversicht zu verströmen. »Freunde, ich habe euch belebt. Ihr besitzt jetzt einen freien Willen. Würdet ihr für mich und mit mir das Tal der Gebeine durchqueren?«
»Warum wandern wir nicht drum herum?«, schlug Lykos vor.
»Das würde mindestens sechs Tage in Anspruch nehmen«, gab Thaurin zu bedenken.
»So viel Zeit habe ich nicht«, sagte ich. »Meine ganze Welt steht still. Wer weiß, ob sie das ewig aushält. Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass die Menschen und Tiere weder Hunger noch Durst verspüren so wie ich, als ich hier in einem Labyrinth erstarrt war. Sie könnten jämmerlich zugrunde gehen, wenn ich sie nicht schleunigst rette. Das müsst ihr verstehen.«
Die drei hüllten sich in eisiges Schweigen.
Mir drohte der Mut zu sinken. War ich nun doch auf mich allein gestellt?
»Ich höre etwas. Ungefähr eine halbe Meile entfernt«, quietschte Nullus leise.
Lykos spitzte die Ohren. »Die Blechbüchse hat recht. Da kommt jemand.«
»Nicht schon wieder diese schrecklichen Automanten!«, stöhnte ich. Thaurins Blick ließ mich schuldbewusst den Kopf einziehen. »Entschuldige, war nicht persönlich gemeint.«
»Es ist nur eine Maschine«, sagte Nullus. »Sie hat zwei Füße. Dem Klang der Schritte nach würde ich auf eine Gliederpuppe tippen.«
»Das könnte unsere Diebin sein. Vielleicht haben wir ihr ja tatsächlich den Weg abgeschnitten«, sprudelte ich aufgeregt hervor.
Lykos nickte. »Wäre möglich. Jenseits des Tales ist ein Tor mit einem befestigten Lager dahinter. Bestimmt will sie dort Begleitschutz anfordern. Was haltet ihr von einer kleinen Mäusejagd?«
»Wir verstecken uns und passen sie ab«, schlug Thaurin vor. Er besaß konstruktionsbedingt die besten Voraussetzungen zum Legen von Hinterhalten.
Rasch verschaffte sich der Automant einen Überblick des Terrains und verteilte uns um die vermutete Fluchtroute der Gliederpuppe herum. Danach folgte gespanntes Warten.
Bald konnte auch ich die Diebin hören. Wenn ihre stählernen Füße auf Eisenfelsen trafen, klang es, als ob Schmiedehämmer auf einen Amboss trommelten: ping-ping, ping-ping … Dann kam sie in Sicht. In den Händen hielt sie ihre Beute, so behutsam, als sei es ein Hühner- und kein Weltenei. Ein Finger lag auf dem Schlüssel, damit der nicht aus dem Loch rutschte. Wahrscheinlich war das mechanische Wesen die ganze Nacht gerannt. Müde wirkte es trotzdem nicht. Maschinen wurden nie müde, sie fingen höchstens an zu
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