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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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umso ungestümer. Nie hatten wir uns herzlich gedrückt, dies verbot der Respekt des Schülers vor dem Lehrer. Deshalb blieb ich vor dem Alten stehen und ließ mir so wie früher dessen Hände auf die Schultern legen. »Du bist groß geworden, Morvi.«
    »Nicht größer als beim letzten Mal, schätze ich. Was ist mit Euren Augen, Meister?«
    »Ich bin blind, seit wir zusammen im Meer versanken. Die Macht, die ich mit meinem Geist entfesselte, muss mir das Augenlicht genommen haben. Umso mehr freue ich mich, die Stimme meines jungen Famulus zu hören.«
    »Warum konntet Ihr uns eigentlich nicht aus dem Labyrinth befreien? Schließlich habt Ihr uns auch hergebracht.«
    »Weil die Gedanken unumkehrbar sind. Das ist eine kosmische Grundregel, der sich niemand widersetzen kann. Ein Zahnrad lässt sich vor- und zurückdrehen, Theo, das vom Geist Erschaffene nicht. Es wird zu einer unstofflichen Kreation.«
    Ich vermochte ihm nicht zu folgen und runzelte die Stirn.
    »Nimm ein Gedicht«, erklärte er, und schon waren wir wieder Lehrer und Schüler. »Seiner schlichten Schönheit tut es keinen Abbruch, ob ein großer Dichter es im Kopf behält, es in Ton ritzt oder es mit der Kalligrafenfeder stilvoll zu Papier bringt. Die Materie ist nur der Träger, nicht die eigentliche Schöpfung. Sie bleibt, sollte auch alles andere vergehen. Es ist so, als hätte ich uns in ein Gefängnis eingeschlossen und den Schlüssel aus dem Fenster geworfen, verstehst du?«
    »Ehrlich gesagt, nein.«
    »Der Ort, an dem wir uns hier befinden, existiert nur in meinem Geist. Sobald jemand den kosmischen Mechanismus an die Elemente der stofflichen Welt bindet – wenn er ihn baut –, können wir entkommen …«
    »Aber das ist …« den drei Uhrmachern gelungen, wollte ich sagen, doch mein Lehrer duldete derlei Unterbrechungen nicht und fiel mir ins Wort.
    »Hast du mich zufällig gefunden?«
    »Freunde haben mir geholfen. Hier bei mir ist Nullus. Er ist ein Ohnekopf. Ein Maschinenmann …«
    »Lass mich raten: ohne Kopf?« Der Philosoph grinste. »Erstaunlich, dass du einen Mechanismus auf zwei Beinen deinen Freund nennst.«
    Ich stutzte. »Woher wisst Ihr, dass er zwei Beine hat?«
    »Du hast von einem Maschinen mann gesprochen.«
    »Natürlich. Stellt Euch vor, Meister. Ich habe Nullus nur berührt und schon war er beseelt. Äußerlich ist er nach wie vor der Ohnekopf, doch … er hat ein Herz bekommen.«
    »Bemerkenswert«, murmelte der Alte. »Höchst bemerkenswert.« Früher hatte er das immer gesagt, wenn er etwas ausprobierte und es funktionierte.
    »Wie habt Ihr es geschafft, hier in all den Jahren zu überleben?«
    Poseidonios streckte sich. »Was? Ach so. Wie dein Freund, der Ohnekopf, hab ich’s gemacht …«
    »Ihr wisst, dass Nullus auch im Irrgarten der Zeit gefangen war?«, wunderte ich mich.
    »Hättest du ihn sonst als Führer ausgesucht?«
    »Da habt Ihr recht.«
    Die schmalen Lippen des Philosophen verzogen sich zu einem Lächeln. »In diesem Labyrinth ist der Blinde im Vorteil, weil seine anderen Sinne umso schärfer sind. Ehe sich eine Wand zu bewegen beginnt, kann ich es schon hören. Leider habe ich nie den Weg nach draußen gefunden.«
    »Das übernehme ich«, quietschte Nullus.
    Ich ergriff die Hand des Alten. »Kommt, Meister. Wir müssen schnell zur Weltenuhr, bevor Oros uns entdeckt.«
    »Heißt das, der kosmische Mechanismus ist tatsächlich gebaut worden?«, fragte Poseidonios staunend.
    Meine Mundwinkel zuckten vor diebischer Freude. Das hättet Ihr auch früher erfahren können. »Ja. Zwei der Männer, denen wir das verdanken, werde ich Euch gleich vorstellen.«
    »Haben sie das Räderwerk in Gang gesetzt?«
    »Nein, das war ich.«
    Der Alte atmete erleichtert auf. »Jetzt verstehe ich. Du kennst ja die Warnung auf der Vorderseite der goldenen Scheibe: Nur jemand, der unschuldig ist wie ein Kind, darf das Wissen aus dem Buch der Zeit anwenden. Ich hätte nicht gedacht …« Seine zuletzt nur noch murmelnde Stimme verstummte ganz. Er rieb sich grübelnd das Kinn.
    »Was hättet Ihr nicht …?«
    »Dass deine Kraft sogar Maschinen zu beseelen vermag«, antwortete Poseidonios wie im Traum. Er wedelte mit der Hand vor dem Gesicht, so als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen, und sagte hörbar aufgeräumter: »Beeilen wir uns, damit Oros dich nicht findet.«
    »Mich?«
    »Ja, dich. Mit deiner Hilfe könnte er in die Welt der Menschen entkommen. Nicht auszudenken, was dann mit ihr geschähe.«

31
    F ast sehnte

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