Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
vorübergehend sicher vor dem Blinden zu sein, dem Unaussprechlichen  – in ihr sträubte sich alles dagegen, ihn Oros zu nennen.
    Nervös blickte sie auf ihre Armbanduhr.
    Und erschauerte.
    Der teure, angeblich unverwüstliche Schweizer Qualitätschronometer war stehen geblieben. Um dreizehn Uhr sechzehn. War sie nicht zu diesem Zeitpunkt dem Unaussprechlichen begegnet?
    »Alles Zufall!«, zischte sie wütend. Sie würde über dem inneren Zwiespalt zwischen Vernunft und Gefühl noch den Verstand verlieren. Der Typ im Mantel war nichts weiter als ein alter Grapscher, vielleicht sogar so ein Pädophiler, der sich an Kindern verging. Sophia dankte im Stillen ihrer Mutter. Die hatte ihr nämlich beigebracht, dass man solche Kerle entschieden und notfalls lautstark zurückweisen musste.
    Ja, so war es. »Es gibt keine kosmischen Maschinen«, murmelte sie trotzig, wie um sich selbst zu überzeugen. Bei aller Liebe zu fantastischen Geschichten war sie doch modern und aufgeklärt. Für das Stehenbleiben und Wiedererwachen der Uhren gab es sicher eine plausible Erklärung. Und das Blitzen hinter der Brille des Alten war bestimmt nur eine Reflexion des Sonnenlichts gewesen. Na also. Von wegen Weltenmaschine. Alles im grünen Bereich …
    Ihr Blick wanderte unwillkürlich zu dem Pappkarton, den sie neben sich auf die Bank gestellt hatte. Es gab eine ganz simple Möglichkeit, ihre innere Zerrissenheit zu beenden. Sie musste sich nur beweisen, dass die irrwitzige Verschwörungstheorie ihres Großvaters Einbildung war.
    Entschlossen stellte sie den Kasten auf ihren Schoß, hob den Deckel ab und ließ ihn aus der Hand gleiten. In der Kiste herrschte ein heilloses Durcheinander. Bei ihrer kopflosen Flucht aus der Wohnung hatte sie einfach alles hineingestopft. Kurz sah sie sich um. Keine Spur vom Unaussprechlichen. Da war nur ein etwa vierzigjähriger Mann, der in der Nähe einen Kiesel auf Mendelssohns Grabstein legte. Etwas weiter entfernt redete eine alte Frau mit unsichtbaren Zuhörern – vielleicht sprach sie den Toten Trost zu, deren Gräber hier von den Nazis geschändet worden waren. Niemand beachtete das Mädchen auf der Bank.
    Sophia klappte im Karton das Fabergé-Ei auf. Behutsam nahm sie die Uhr und den kleinen Schlüssel heraus. Ein Lichtreflex der Sonne blitzte auf seinem vergoldeten, mit umlaufenden Bünden verzierten Halm – so nannte man, wie sie von ihrem Vater wusste, in der Fachsprache den Schaft. Die Räute, also der Griff, glich einem zum Rhombus gestauchten Ring, in dem an der oberen und unteren Flachseite jeweils eine Wulst nach innen ragte. Der Bart wies ein filigranes Zackenmuster auf. Ein richtiges Schmuckstückchen hielt sie da zwischen Daumen und Zeigefinger.
    Ihre Hand näherte sich nun dem Schlüsselloch. Sie zitterte so sehr, dass Sophia den – wie hatte ihr Großvater geschrieben? – Verbotenen Schlüssel nicht hineinbekam. »Alles in Ordnung«, wisperte sie. »Gleich ist der Spuk vorbei und die Welt ist wieder die alte.«
    Beim zweiten Versuch glitt das verflixte Ding endlich in die dafür vorgesehene Öffnung unterhalb des Deckels. Nicht zögern!, hallte eine Stimme in Sophias Geist, und so drehte sie den Schlüssel im Uhrzeigersinn um ein winziges Stück herum.
    Na also! Nichts passiert …
    Ihre Gedanken gerieten ins Stolpern, weil sie mit einem Mal ein elektrisierendes Kribbeln spürte. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Du spinnst!
    Doch das prickelnde Gefühl hielt an.
    »Alles nur Einbildung«, fauchte sie. »Dreh den Schlüssel endlich ganz rum, dann wirst du ja sehen …«
    Plötzlich vernahm sie einen bezaubernden Klang aus unterschiedlichen Tönen, ein sphärisches Singen wie von einem Windspiel aus schlanken Metallröhren. Zugleich wurde aus dem Kribbeln ein starkes Gliederziehen, wie bei einer heftigen Grippe. Sophia merkte, wie ihr die Kontrolle über sich selbst entglitt. Ihre Augen schienen sich aufzublähen, während sie gebannt auf das Ei in ihren Händen starrte. Es kam ihr so vor, als würde sie in die Uhr hineingesogen. Ein schauderhaftes Gefühl. Bekam sie einen Anfall? Ihr Kopf ruckte hoch. Jemand musste ihr helfen.
    Das Grab mit dem Kiesel war verlassen. Nur die alte Frau stand noch da. Sie hatte ihr Gespräch unterbrochen und blickte, als sähe sie das leibhaftige Grauen, zur Bank herüber. Was sie genau sah, konnte Sophia nur ahnen.
    Denn im nächsten Moment war sie in der Uhr verschwunden.

5
    S ie hatte vor Schreck die Augen zugekniffen und nahm ihre Umgebung

Weitere Kostenlose Bücher