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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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eben nicht wirklich die Zukunft gesehen.
    Unschlüssig sah sie zu dem Nürnberger Ei im Pappkarton hinab. Der kleine Schlüssel hatte sich weitergedreht. Ob sie wieder in ihre eigene Welt zurückkam, wenn das Uhrwerk stehen blieb? Vielleicht konnte sie die Sache ja etwas beschleunigen, indem sie das Schlüsselchen entgegen dem Uhrzeigersinn drehte. Sie bückte sich, um in die Kiste hineinzulangen …
    Plötzlich spürte sie eine Hand auf der Schulter.
    Der Blinde mit den strahlenden Augen!
    »Geh weg!«, kreischte sie, ehe der Gedanke ganz geformt war.
    »Hab keine Angst«, sagte eine Stimme, die viel jünger klang als die des Unaussprechlichen. Überdies sprach sie mit finnischem Akzent. Schnell fügte sie hinzu: »Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.«
    Sophia traute dem freundlichen Tonfall nicht. Warum redete dieser Jemand wie ihr Vater, der trotz perfekter Deutschkenntnisse nie seine skandinavische Herkunft hatte verhehlen können? Hastig packte sie die Kiste und drückte sie an sich. Dann erst drehte sie sich im Aufrichten um.
    Vor ihr stand ein Junge in ihrem Alter, auf dessen Gesicht sich ein Ausdruck der Neugier schlagartig in Überraschung verwandelte. Seine graublauen, irgendwie hypnotischen Augen starrten sie verblüfft an. Mit seinem zerzausten rotblonden Schopf ähnelte er diesem Oliver, der ihr vorhin beim Finden der Uhrmacherwohnung geholfen hatte. Abgesehen davon hatten die beiden nur wenig gemein. Sophias Gegenüber war größer als der junge Maler, er überragte sie fast um einen ganzen Kopf. Seine Figur hätte gut zu einem Schwimmer gepasst. Und seine Kleidung war ziemlich unkonventionell: flache schwarzbraune Stulpenstiefel, erdfarbene Kniebundhosen mit langen beigebraunen Strümpfen, ein bis über sein Hinterteil reichendes helles Leinenhemd und ein schlichter Gürtelstrick mit einem daran hängenden Lederbeutel sowie einer Art Dolch, der wie ein Tierhorn aussah. Das Outfit wirkte wie ein gedankenloser Griff in den Kostümfundus eines Theaters. Mit einem Mal weiteten sich seine ungewöhnlichen Augen.
    »Ich kenne dich«, sagte er und deutete auf die glatte Metallwand gegenüber. »In den Fenstern habe ich dich gesehen. Öfters sogar. Und in meinen Träumen.«
    Auf einem x-beliebigen Bahnsteig hätte Sophia erwidert: Das ist die dümmste Anmache aller Zeiten. Doch hier, an diesem unwirklichen Ort, fragte sie: »Bist du … Theophilos?«
    Er lächelte. »So haben mich nur wenige genannt. Für die meisten war ich einfach Theo. Woher kennst du mich?«
    »Aus einem Notizbuch, das mir mein Opa vermacht hat.«
    »Sprichst du vom Merkwürdigsten Buch der Welt? Ist dein Großvater der Uhrmacher Ole Kollin?«
    »Ja! Woher …?«
    »Er hat sich viele Jahre lang mit mir unterhalten. Obwohl ich ihm nie antworten konnte. Ohne ihn hätte ich nie das komische Deutsch gelernt, das du sprichst.«
    »Du meinst, er hat mit dem Uhr-Ei gesprochen?« Sophia erinnerte sich an eine dahingehende Bemerkung des Notars.
    Theo nickte. »Als wisse er genau, dass ich darin gefangen bin, ihn sehen und ihm zuhören kann.«
    »Sehen?«
    »Durch die Zeitfenster.« Er wies wieder auf die gegenüberliegende Wand. »Ist sowieso kurz vor Torschluss. Komm, lass uns den Standort wechseln.« Er schickte sich an loszulaufen, doch weil Sophia ihm nicht folgte, sondern ihn nach wie vor anstarrte, griff er entschlossen nach ihrer freien Hand und zog sie mit sich.
    Jetzt erst bemerkte sie, wie schmal der Gang inzwischen geworden war. Bald würden sie zwischen den Wänden eingeklemmt werden. Und was sie noch mehr beunruhigte: Der Durchschlupf hinter ihr hatte sich geschlossen; auch vor ihnen war der Tunnel eine Sackgasse. Sophia spürte erneut die Panik in sich aufsteigen …
    Unvermittelt blieb Theo stehen.
    In ihrer Aufregung reagierte sie zu spät und stieß gegen ihn. Sein Geruch stieg ihr in die Nase. Überraschenderweise stank er nicht, wie sie es von Menschen aus früheren Geschichtsepochen erwartet hätte. Vielmehr verströmte er einen kräftigen, aber nicht unangenehmen Duft nach Moschus, Holz und Kräutern. Verlegen wich sie seinem fragenden Blick aus und ging wieder auf Abstand. »Entschuldige.«
    »Nichts passiert. Ist irgendwas?«
    »Nein. Was soll sein?« Ängstlich blickte sie sich um. Die Wand in ihrem Rücken kam immer näher.
    »Frag ruhig, was dir auf der Zunge liegt.«
    Sie räusperte sich, um ihrer brüchigen Stimme mehr Festigkeit zu geben. »Warum bleiben wir stehen? Ich meine, hier sind doch bloß diese

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