Der verbotene Schlüssel
nur mit den Ohren wahr. Der metallische Singsang war immer noch da, klang jetzt aber ferner, so wie durch dicke Wände gedämpft. Andere Geräusche drängten sich in den Vordergrund, ein Dröhnen und Ächzen wie in einem U-Boot, das seine maximale Tauchtiefe überschritten hatte. Sophia beschlich das irre Gefühl, auf einem goldenen Faden zu stehen, der zwischen ihrer Welt und einer anderen gespannt war, und sobald sie die Lider anhob oder auch nur blinzelte, würde dieser haarfeine Draht reißen und sie in ein Reich aus Zahnrädern schleudern. Bestimmt war sie auf der Parkbank nur ohnmächtig geworden und träumte das alles …
Ein plötzliches Knarren ließ sie zusammenfahren. Reflexartig riss sie die Augen auf. Sie saß, nein, nicht auf einem Goldfaden, sondern auf dem Boden eines Ganges, dessen Wände wie Quecksilber glänzten. Seltsamerweise sah sie in den spiegelnden Flächen, abgesehen von sich selbst, wie hinter einer Scheibe auch andere Menschen oder Tiere oder nur leere Zimmer und weite Landschaften – alle paar Meter wechselten sich die lebendigen Bilder ab.
Wieder vernahm sie das metallische Knarren und warf den Kopf zurück, weil das Geräusch von oben kam. Ruckelnd senkte sich die Decke auf sie herab.
Ich bin in Mekanis. Nicht in Worten schrieb sich diese Erkenntnis in Sophias Bewusstsein, sondern als untrügliches Gefühl. Ein Gefühl, das sich rasch mit einem anderen durchmischte: Angst.
Um sie herum erscholl ein gequältes Ächzen, als säße sie in einem riesigen leidenden Ungetüm. Die Decke rutschte weiter auf sie zu. Sophia ließ rasch das Uhr-Ei in den Karton gleiten und rappelte sich hoch. Wenn sie nicht zerquetscht werden wollte, musste sie schleunigst weg hier.
Sie stand noch nicht richtig auf den Beinen, da sackte die Decke abermals herab. Unaufhaltsam bewegte sie sich nach unten, so als wolle sie gar nicht mehr anhalten. Sophia zog den Kopf ein und schrie auf. Als hätte die Decke ein Einsehen mit ihr, kam sie klagend zum Stehen.
Zum Aufatmen blieb keine Zeit, denn es war nur ein Innehalten. Schon verringerte sich der Abstand zum Boden weiter. Sophia musste auf die Knie gehen. Normalerweise litt sie nicht unter Klaustrophobie, aber jetzt fuhr ihr die Panik in alle Glieder.
Auf der Suche nach einem rettenden Ausgang krabbelte sie hastig durch den Spiegeltunnel. Den offenen Pappkarton schubste sie dabei vor sich her, obwohl er ihre Flucht nur verlangsamte. Sie ignorierte die Stimme der Vernunft, hörte lieber auf den Ruf der Gefühle: Gib Großvaters Vermächtnis nicht der Vernichtung preis! Zwar verdankte sie dieser Erbschaft den ganzen Schlamassel, doch vielleicht käme sie ohne das Weltenei oder das Buch niemals wieder hier weg.
Erneut hörte sie das bedrohliche Knarren. Ihr Rucksack begann, an der Decke entlangzuschaben. Die Angst drohte Sophia vollends zu überwältigen. Ihr Atem ging stoßweise, ihr Herz schlug wild. Immer hektischer suchte sie nach einem Ausweg. Die lebendigen Bilder in den Wänden verwirrten sie. Ihr wurde schwindlig …
Plötzlich entdeckte sie zu ihrer Rechten eine quadratische Öffnung, vermutlich ein Schacht oder ein anderer Gang, zumindest wohl ein Fluchtweg.
Der Boden erzitterte unter ihr mit einem furchterregenden Ächzen. Es war wie ein letztes Aufbäumen vor dem alles vertilgenden Schlag.
Sophia stieß ihre Kiste in das Loch und zog sich selbst hinein.
Gerade noch rechtzeitig, denn mit einem donnernden Geräusch rammte sich hinter ihr die Decke in den Boden.
Als das Schwindelgefühl etwas nachgelassen hatte, kam Sophia wieder auf die Beine. Keuchend lehnte sie sich an die Wand und blickte sich um. Der Gang, in den es sie jetzt verschlagen hatte, schien keine unmittelbare Gefahr zu bergen. Die Decke machte einen stabilen Eindruck. Dafür glitt die glänzende Wand auf der anderen Seite stetig an ihr vorbei und präsentierte wie am Fließband immer neue Bilder. Sophia fühlte sich in unterschiedliche Epochen der Menschheitsgeschichte versetzt: Hier küsste sich ein junges Paar in Renaissancetracht – es sah aus wie ein Szenenbild aus Shakespeares Tragödie Romeo und Julia –, dort hieb eine dürre Bäuerin einem Huhn den Kopf ab und gleich anschließend erschien eine vom Krieg verwüstete Stadt. War das im Hintergrund die New Yorker Freiheitsstatue?
Weil sie den beklemmenden Anblick nicht ertrug, wandte Sophia sich ab. Sie fürchtete, in einem Irrgarten der Zeit gefangen zu sein, der sich unablässig veränderte. Hoffentlich hatte sie da
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