Der verbotene Schlüssel
ehemalige Pirat rieb sich die Augen und sah sich ängstlich um. »Sind sie weg?«
»Ja«, antwortete Poseidonios. Er hievte die goldene Scheibe aus dem Wasser. »Wir können uns bei Theo bedanken. Wenn dieser Diskus wahrhaftig das ist, was ich vermute, dann hat uns die kleine Ameise alle vor dem Tod bewahrt.«
7
S ie stand auf einer spiegelnden Fläche, so glatt wie ein See in einer windstillen Nacht. Ihr Gesicht war schön wie die Lilien von Menosgada, ihre Lippen so rot wie das Schwarze Kohlröschen und ihr Haar leuchtete wie gelber Bernstein in der Sonne. Mehr noch als ihre äußere Schönheit bezauberte mich ihr Gesang. »Komm zu mir, Theo! Komm!« Ihre zarte Hand bedeutete mir weiterzugehen …
Plötzlich erbebte das wunderbare Bild unter einem fernen Grollen und ich schreckte aus dem Schlaf.
Ich rieb mir die Augen. War das schöne Mädchen im Traum Dahut gewesen? Hatte sie mich wie eine Sirene in einen nassen Tod locken wollen, in die dunkle Tiefe ihrer versunkenen Stadt? Jedenfalls musste ich auf dem Sofa eingenickt sein, während mein Meister über der Inschrift brütete.
»Kein Grund, sich zu ängstigen, Morvi. Ist nur ein Frühlingsgewitter, das sicher an der Insel vorbeizieht«, sagte dessen stets heisere Stimme. Poseidonios hatte das Erwachen seines Schülers also bemerkt.
Ich richtete mich auf und blickte zu dem Tisch, an dem mein Mentor im milden Licht einer Öllampe saß, weit vorgebeugt und nicht einmal von dem goldenen Diskus aufsehend, während er mit mir sprach.
Wieder erklang das ferne Donnern. Es schien mir näher als zuvor. Ich blickte durch die offene Klapptür in den dunklen Garten und bildete mir ein, am Himmel bereits erstes Morgengrauen zu sehen. »Wollt Ihr nicht endlich schlafen gehen, Meister?«
»Dafür bleibt noch genug Zeit, nachdem der Fährmann Charon mich ins Totenreich übergesetzt hat. Das hier würde mir sowieso keine Ruhe lassen, bis ich es vollständig entziffert habe.«
Ich erhob mich aus dem Sofa und begab mich an die Seite des Philosophen, um die goldene Scheibe zu betrachten. Für mich waren die sich aus der spiegelnden Fläche erhebenden Symbole nur Bilderrätsel. Im Zentrum befand sich eine achtblättrige Rosette, von der sich wie die Windungen im Gehäuse einer Schnecke das Schriftband nach außen schraubte. Es war durch Linien gesäumt und in mehrere Abschnitte unterteilt. Aus dem Tierreich gab es da einen fliegenden Vogel, einen Fisch und ein Horn, aus der Flora einen Zweig und weitere Blumen, die Menschenwelt repräsentierten ein Männerkopf mit einem Helmbusch und Werkzeuge wie Tischlerhobel und Winkel.
»Der Bauplan des Kosmos«, flüsterte Poseidonios ehrfürchtig.
Ich runzelte die Stirn. »In diesen paar Schriftzeichen soll das ganze Universum beschrieben sein?«
Poseidonios legte mir die Hand auf die Schulter, wie er es sonst nur aus rein praktischen Erwägungen tat. In meinen ersten Monaten bei ihm hatte mich oft das Gefühl beschlichen, der alte Philosoph habe mich nur wegen meiner Kürze zum Schüler erwählt. Als Neunjähriger eignete ich mich bestens zum dienstfertigen Krückstock auf zwei Beinen. Diese Zeit ging nun zu Ende, denn ich gehörte mütterlicherseits dem Volk der Kimbern an. Schon mit elf war absehbar, dass ich einmal ein großer und kräftiger Bursche werden würde.
Mit der Linken deutete der Gelehrte auf die Scheibe. »Wer dieses goldene Buch geschrieben hat, verfügte über Kenntnisse, die meine kühnsten Visionen übersteigen. Wie du weißt, bin ich seit Langem davon überzeugt, dass alle wichtigen Abläufe des Himmels im irdischen Geschehen einen Widerhall finden.«
»›Wie oben, so unten?‹«, wiederholte ich die Regel der Weisen vom Nil.
Poseidonios nickte. »Der Diskus von Ys liefert den Beweis dafür. Auf der Rückseite enthält er eine Weltenformel. Ihre Einfachheit ist für mich ebenso überraschend wie schön. Und trotzdem umfasst sie die ganze Harmonie des Kosmos. Wer sie sich erschließt, der mag alles verstehen. Vermutlich wird er sogar Vergangenheit und Zukunft überblicken. Die Zeit würde für ihn wie ein Strom, auf dem seine Gedanken frei auf- und abreisen könnten.«
Ein greller Blitz erhellte den Himmel, dicht gefolgt von einem knallenden Donnerschlag. Ich zuckte zusammen. Wind kam auf und ließ die Zweige im Garten rascheln.
»Es ist vielleicht besser, ein paar Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen«, sagte Poseidonios.
Ich lief zu der Falttür, zog beide Hälften auseinander und sicherte sie mit bronzenen
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