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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sich herum vergessen. Aber der jetzige Wortschwall, der schon an Besessenheit grenzte, ließ sich weder mit seiner Selbstverliebtheit noch mit den Schrullen des Alters erklären. Obwohl bei dem Wettergetöse nicht das Geringste zu verstehen war, bewegten sich seine Lippen so schnell, als spräche nicht er, der sonst so besonnene Gelehrte, sondern an seiner statt ein anderer …
    Ich erschrak. Gerade hatte mich das Gefühl angesprungen, in den Augen des Alten ein Licht aufleuchten zu sehen … Da! Erneut flammte dieser irre Blick auf. Es war ein weißes Gleißen, viel heller als glühendes Eisen. Für die Dauer eines Wimpernschlags tauchte es das Zimmer in einen überirdischen Glanz. Und ebenso rasch erlosch es wieder. Nur der Widerschein der Blitze, die auf das Haus niederhagelten …?
    Plötzlich kehrte Stille ein. Die heisere Stimme des Philosophen war das einzige Geräusch im Raum. Als habe es nie ein Unwetter gegeben, führte er seine Gedanken zu Ende.
    »… halte ich es für möglich, ein mechanisches Abbild des Universums zu erschaffen. Wenn man dieses Räderwerk zurückkurbelt, könnte man erfahren, wie alles begann. Und will ich wissen, was die Zukunft bringt, lasse ich es hurtig vorwärtsschnurren. Wie findest du meine Idee?«
    Ich war von dem eben Erlebten viel zu eingeschüchtert, um auf die Frage zu antworten. Voller Argwohn beäugte ich die goldene Scheibe auf dem Tisch. Am liebsten hätte ich sie wie ein Diskuswerfer im weiten Bogen ins Meer geschleudert. »Was ist das für ein Zauberding?«
    Poseidonios wirkte einen Moment irritiert. Er hatte von seinem Schüler wohl beifällige Zustimmung erwartet, nicht eine Gegenfrage, die gänzlich am Thema vorbeiging. »Mit Zauberei hat das nichts zu tun.«
    »Aber das Unwetter, Meister! So plötzlich es kam, so schnell verschwand es wieder. Ich dachte, die Welt würde untergehen.«
    Der Alte winkte ab. »Nur eine Gambade des Wetters. Eine himmlische Illumination mit ein paar effektvollen Paukenschlägen.«
    »Ein närrischer Einfall des Wetters?«, piepste ich mit meiner hellen Knabenstimme. Ich lief zu der Falttür, öffnete die Riegel, schob die Flügel auseinander und deutete mit beiden Händen hinaus. »Und was ist das? «
    Der Garten war weiß von Schnee.
    Endlich zeigte Poseidonios eine Reaktion, die mir den Umständen angemessen erschien. Er riss überrascht Mund und Augen auf. Ächzend stemmte er sich aus dem Stuhl hoch. Ich sprang schnell zu ihm, damit er sich auf meine Schulter stützen konnte. Gemeinsam begaben wir uns zur Falttür.
    »Und das ist eben erst passiert?«, fragte der Philosoph staunend.
    »Ja doch! Habt Ihr das Unwetter wirklich nicht bemerkt?«
    »Nein. Ich war wohl so berauscht von meiner Idee, dass ich nichts mitbekommen habe. Du meinst, das da draußen hat mit dem Diskus von Ys zu tun?«
    »Anders kann ich es mir nicht erklären.«
    »Bemerkenswert!«, murmelte Poseidonios. »Das ist wirklich bemerkenswert.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Warum ist Agamemnon nicht längst hier, um sich nach Eurem Wohlergehen zu erkundigen?«
    »Agamemnon?« Poseidonios lachte einmal kurz auf. »Wie ich ihn kenne, hat er sich unter einem Tisch verkrochen.« Er klopfte Theo auf die Schulter. »Habe ich dir übrigens schon erzählt, wie ich in Athen zu Füßen des großen Panaitios von Rhodos saß?«
    »Gelegentlich«, antwortete ich vorsichtig. War der unerwartete Gedankensprung meines Meisters wieder nur ein Ausdruck seiner Zerstreutheit? »Warum fragt Ihr?«
    »Panaitios hat mich in die philosophische Schule der Stoa eingeführt. Er pflegte zu sagen, dass alles um uns herum allein in der Gesamtheit des Kosmos zu begreifen ist. In den Naturerscheinungen spiegelt sich ein göttliches Prinzip. Nur im Streben nach Weisheit, Selbstbeherrschung und Gelassenheit können wir unseren Platz in dieser höheren Ordnung erkennen und ausfüllen.«
    »Wie Rädchen in einem großen Mechanismus«, murmelte ich. Mir kamen unweigerlich die letzten Worte des Meisters vor dem Ausbruch des Unwetters in den Sinn.
    »Sehr richtig. Wir stoßen immerfort auf denselben Grundsatz: ›Wie oben, so unten.‹ Ich hatte schon früh den Verdacht, dass es eine kosmische Formel geben könnte, dem alles zugrunde liegt. Nur so lässt sich die Sympathie erklären – der organische Zusammenhang im ganzen Universum. Kannst du dich noch erinnern, was ich dir über die verschworene Anhängerschaft des Philosophen Pythagoras erzählt habe?«
    Mir schwirrte der Kopf. »Ihr meint die

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