Der verbotene Schlüssel
kreischte der Zug weiter über die Gleise. Seitlich sprangen dunkle Gestalten aus den Waggons, die gefühlsentleerte Elitetruppe des Stundenwächters. Etliche kamen bei dem übereilten Ausstieg zu Fall, andere begannen sofort, neben dem Zug herzulaufen, den Jungen und das Mädchen fest im Blick. Irgendeiner schrie das Mantra: »Stehen bleiben! Sofort stehen bleiben!« Und die anderen stimmten im Chor mit ein.
Der Zug war inzwischen fast zum Stillstand gekommen. Während er sich auf das Ende des Schienenstranges zuwälzte, erlag Sophia einem inneren Zwang und wandte den Kopf nach rechts. Ihr Blick wischte über die dunklen Flecken zwischen den Scheinwerfern hinweg – das Blut von Oros’ Menschenopfer? – und glitt hinauf zum Führerstand. Das sich bedrohlich nahende Endstation-Graffiti beachtete der Stundenwächter nicht. Triumphierend lächelte er zu ihr herab.
»Spring!«, erscholl neben ihr plötzlich Theos Stimme. Seine Hand packte fester zu.
Sophia reagierte sofort. Wie eine Hürdenläuferin stieß sie sich vom Boden ab, noch ehe sie wieder nach vorne sah. Die Kante des Steges flog auf sie zu. Sie war höher als geschätzt. Geistesgegenwärtig hob Sophia das vorgestreckte Bein weiter an und bekam so den Fuß im letzten Augenblick über das Hindernis.
Theo hatte seinen Sprung besser berechnet, was für beide aber eher von Nachteil war. Er setzte sicherer und etwas früher auf als Sophia, wodurch er sie mit seinem ganzen Gewicht nach vorne riss. Deswegen konnte sie sich nicht aufrichten, sondern rutschte nur ein Stück weit über den staubigen Untergrund und landete auf dem Hinterteil. Dies wiederum bremste Theos Schwung und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er wurde von ihr nach unten gezogen und fiel hin.
Der Zug war einen knappen Meter vor dem Graffiti vollends zum Stehen gekommen. Auch die Vorhut der frühzeitig aus gestiegenen Schergen hatte Sophia und Theo fast erreicht. Alle Fluchtwege waren versperrt.
Über den Köpfen der Gefallenen öffnete sich zischend die Führerhaustür. Oros streckte den Kopf heraus. Er deutete gebieterisch zu ihnen herab und rief: »Ergreift diese Würmer und lasst sie nicht wieder entkommen!«
Theo riss seinen Dolch aus dem Gürtel.
Wie Marionetten, die samt und sonders an den Fäden eines einzigen Puppenspielers hingen, streckten alle die Arme aus und näherten sich den zwei mit steifen Bewegungen.
Nun erst wandte sich Oros dem Paar zu. Er schwankte, als sei er trunken vom Triumph des nahen Sieges. »Es war töricht von euch, mir entkommen zu wollen.« Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Hier ist für euch Endstation.«
Zu ihrer Überraschung vernahm Sophia unvermittelt jene Sphärenmusik, die sie erstmals am Vormittag kurz nach dem Aufziehen der Weltenuhr gehört hatte. Würde der Stundenwächter sie nun für immer in sein Reich Mekanis verbannen?
Sein Gesicht war bei den ersten Tönen gleichsam versteinert. Der triumphierende Ausdruck darin hatte einem verblüfften Missbehagen Platz gemacht. Sophia deutete diese Veränderung als unheilvolles Zeichen und presste ängstlich Theos Hand zusammen. Alles war wie beim ersten Mal: die sphärischen Klänge, das Kribbeln und Ziehen in den Gliedern, die sich scheinbar aufblähenden Augäpfel und schließlich das Gefühl, in einen Trichter gesogen zu werden …
11
E in Schwall stickiger Luft rollte über Sophia hinweg. Er war so gesättigt vom Geruch nach Eisen und Rost, dass sie ihn auf der Zunge schmeckte. Sie lag auf dem Bauch, die rechte Wange auf kaltes Metall gebettet. Erkennen konnte sie kaum etwas, weil um sie herum nur fahles Zwielicht herrschte und ihre Sinne noch wie betäubt waren. Je mehr die Benommenheit wich, desto klarer schälten sich einzelne Konturen aus dem graublauen, verschwommenen Mischmasch …
Direkt vor ihren Augen erschien ein leeres Gesicht.
Sie erschrak. Ein furchtbarer Gedanke ließ sie den Kopf hochreißen: Ist das Theo? Hat Oros ihm die Seele geraubt, ihn zu einer gefühlsentleerten, gesichtslosen Maschine gemacht? Jetzt dreh nicht durch!, ermahnte sie sich. Eigentlich deutete nichts darauf hin, dass die neben ihr liegende Gliederpuppe mit dem am Ellenbogen abgetrennten Unterarm ihr Freund sein könnte.
Sie spähte über die Maschinenleiche hinweg. Soweit sich dies aus dem ungünstigen Blickwinkel erkennen ließ, war ihre nähere Umgebung an Trostlosigkeit kaum zu überbieten. Hatte Oros sie auf einen Abwrackhof verbannt? Plötzlich bemerkte sie eine
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