Der verbotene Turm - 11
eigenen Gewissen verantwortlich bist. Aber was ist das f ü r ein Gewissen, Leonie, wenn es nicht die Ehrlichkeit verlangt, die einer Bewahrerin und einer Hastur w ü rdig ist!
Wieder entstand ein langes Schweigen. Schließlich sagte Leonie: Auf das Wort einer Hastur, Damon, ich weiß nicht, wie man es r ü ckg ä ngig macht. Alle meine Nachforschungen in unsern Aufzeichnungen hatten nichts als das Ergebnis gebracht, dass in fr ü heren Zeiten die Bewahrerin in einem solchen Fall nach Neskaya geschickt wurde. Deshalb ging ich nach Neskaya. Theolinda, die dortige Bewahrerin, teilte mir mit, dass alle Manuskripte vernichtet wurden, als Neskaya im Zeitalter des Chaos niederbrannte. Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass Callista zu uns zur ü ckkehren sollte. Aber ich will dir sagen, dass es nur einen Weg gibt, zu entdecken, was f ü r Callista getan werden kann. Damon, weißt du, was Zeitforschung ist?
Damon hatte das Gef ü hl, der Stoff, aus dem die ü berwelt bestand, bebe unter seinen F ü ßen und ü berflute ihn mit K ä lte. Ich habe geh ö rt, dass auch diese Technik verloren gegangen ist. Nein, das ist sie nicht, denn ich habe Zeitforschung betrieben , berichtete Leonie. Der Lauf eines Flusses hatte sich ver ä ndert, und Farmen und D ö rfer in diesem Gebiet waren von Hungersnot durch entweder Trockenheit oder ü berschwemmung bedroht. Durch Zeitforschung stellte ich fest, wie der Flusslauf vor hundert Jahren gewesen war, damit wir ihn zur ü ckleiten konnten und keine Energie auf den Versuch verschwenden mussten, ihn ohne einen nat ü rlichen Kanal fließen zu lassen. Es war nicht leicht. Ihre Stimme klang d ü nn und ä ngstlich. Und du m ü sstest weiter zur ü ckgehen als ich damals. Du m ü sstest die Zeit vor dem Brand von Neskaya erreichen, die Zeit der Hastur-Aufst ä nde, eine b ö se Zeit. Glaubst du, du kannst diese Ebene erreichen?
Damon antwortete langsam: Ich kann auf vielen Ebenen der ü berwelt arbeiten. Nat ü rlich gibt es andere, zu denen ich keinen Zugang habe. Ich weiß nicht, wie ich auf die eine Ebene gelangen soll, wo Zeitforschung betrieben werden kann.
Ich kann dich hinf ü hren , sagte Leonie. Nat ü rlich weißt du,
dass die ü berwelten nur eine Reihe von ü bereink ü nften sind. Hier in der grauen Welt ist es verh ä ltnism ä ßig einfach, K ö rper zu visualisieren und mit Gedanken Landmarken zu erzeugen. Sie wies auf die schimmernden Umrisse des Turms von Arilinn hinter ihnen.
Schwieriger ist es, die Wahrheit zu erkennen, und die Wahrheit ist, dass dein Geist ein zartes Gewebe von Unfassbarkeiten darstellt, die sich in einem Reich der Abstraktionen bewegen. Das hast du nat ü rlich schon w ä hrend deines ersten Jahrs im Turm gelernt. Es ist m ö glich, dass die ü berwelt der objektiven Realit ä t des Universums n ä her ist als die stoffliche Welt, die man die Realit ä t nennt. Doch selbst dort kann jeder gute Techniker K ö rper als Gewebe aus Atomen und wirbelnden Energien und Magnetfeldern sehen.
Damon nickte. So war es.
Es ist nicht leicht, deinen Geist weit genug von den Begriffen der realen Welt zu l ö sen, dass du von der Zeit, wie du sie kennst, frei wirst. Die Zeit selbst ist wahrscheinlich nichts anderes als ein Weg, die Realit ä t zu strukturieren, damit unsere Gehirne sie begreifen k ö nnen , f ü hrte Leonie aus. Wahrscheinlich erlebt man in der Ultimaten Realit ä t des Universums, an die unsere Erfahrungen Ann ä herungen sind, die Zeit nicht als Folge von Ereignissen, sondern Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft existieren als ein chaotisches Ganzes. Anders ist es auf den k ö rperlichen Ebenen, zu denen nat ü rlich auch die geh ö rt, auf der wir uns jetzt befinden, diese Welt der Bilder, wo unsere Gedanken fortlaufend das erschaffen, was wir gern um uns sehen m ö chten. Auf den k ö rperlichen Ebenen also finden wir es leichter, entlang einer pers ö nlichen Sequenz zu reisen, von dem, was wir die Vergangenheit nennen, zur Gegenwart und weiter zur Zukunft. Aber in der Realit ä t existiert wahrscheinlich sogar ein k ö rperlicher Organismus in seiner Ganzheit gleichzeitig, und seine biologische Entwicklung vom Embryo zum Greisenalter und zum Tod ist nur eine weitere Dimension wie die L ä nge. Verwirre ich dich, Damon?
Nicht sehr. Sprich weiter.
Auf der Ebene der Zeitforschung verschwindet das Konzept eines linearen Fortschreitens in der Zeit v ö llig. Du musst es f ü r dich selbst erzeugen, damit du dich nicht in der chaotischen
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