Der Verehrer
anzuzapfen. Aber sicher ist sicher. Wir sollten nicht das mindeste Risiko eingehen.«
Leona ging zur Haustür zurück, holte ihre Zeitung und die achtlos abgestellte Einkaufstüte herein. Sie schaute sich um, sah aber nichts als einsame Wiesen, die irgendwo am Horizont mit den Wolken verschmolzen. Kein Mensch, kein Tier weit und breit. Sie verschloß die Tür sorgfältig.
Ich habe festgestellt, daß Leonas Auto in der Garage vor ihrem Haus steht. Heute morgen, nachdem Wolfgang zur Arbeit aufgebrochen war, bin ich ein wenig auf dem Grundstück herumgeschlichen. Die Garage war natürlich fest verschlossen, aber an ihrer Rückseite hat sie ein kleines Fenster, das allerdings vom Efeu fast zugewachsen ist. Dort habe ich hineingespäht und das Auto gesehen. Also ist sie ohne ihren Wagen abgehauen. Wenn ich nur wüßte, wo sie ist!
Vielleicht noch in Frankfurt, hat sich eine Wohnung gemietet in irgendeinem anonymen Wohnblock. Oder ob sie bei einer Freundin untergetaucht ist? Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Dafür ist sie zu anständig. Sie weiß inzwischen von Millies Tod, da bin ich sicher, und wie ich sie einschätze, gibt sie sich eine Teilschuld daran. Sie wird sich hüten, irgendeine weitere Person in unsere Geschichte mit hineinzuziehen. Sie sitzt irgendwo ganz allein, und ich schätze, nur Wolfgang weiß, wo das ist. Ich habe Phantasien, was ich mit ihm machen könnte, um ihn zum Reden zu bringen. Aber er würde mir nicht die Wahrheit sagen,
das ist klar, und ich könnte ihn nicht einmal töten, wenn sich herausstellte, daß er gelogen hat. Ich würde ihn ja noch brauchen. Trotzdem darf mir dieser Gedanke nicht verlorengehen: Wolfgang bleibt eine letzte Chance.
Und die Zeit. Ewig kann sie sich nicht verstecken. Ich mich auch nicht. Es ist ein faires Spiel: Die Zeit arbeitet gegen uns beide.
Seit ein paar Tagen habe ich kein Zimmer mehr. Das Risiko wurde zu groß, daß die Wirtin mich erkennt und die Polizei ruft. Ich hatte auf einmal das Gefühl, daß sie mich eindringlich musterte. Das war spät am Abend, als ich zurück in diese schäbige Pension am Stadtrand kam und sie noch um eine Tasse Tee bat. Sie saß allein in ihrer Küche und legte Patiencen, und während sie aufstand und sich anschickte, das Teewasser aufzusetzen, ließ sie mich nicht aus den Augen. Es war ein Blick, wie ich ihn kenne bei einsamen, alternden Frauen. Diese gräßliche Lydia, Evas sogenannte Freundin, hatte ihn auch immer drauf. Er tritt in die Augen dieser Frauen, wenn ein Mann in ihre Nähe kommt. Der Blick bettelt um ein Lächeln, ein Kompliment, um eine Berührung. Zu einer Berührung konnte ich mich nicht überwinden (rieche noch den süßen Duft von Leonas Haut und spüre ihren Atem an meinem Gesicht), aber ein Lächeln und ein verlogenes Kompliment bekam sie. Sie reagierte nicht mit der freudigen Erleichterung , die ich sonst bei solchen Frauen wahrgenommen habe, und plötzlich dachte ich, mein Gott, sie starrt dich an, weil sie dich erkannt hat! Es fiel mir schwer, ruhig zu warten, bis der Tee fertig war, ihr dann eine gute Nacht zu wünschen und gelassen mit der Tasse in der Hand in mein Zimmer zu gehen. Es lag ebenerdig, das war die Grundvoraussetzung für eine Anmietung gewesen. Ich packte meine Sachen und kletterte aus dem Fenster. Habe ja nicht viel bei mir, nur einen
Seesack mit etwas Wäsche, Strümpfen, einer zweiten Jeans und einem Pullover. Ich war leise und graziös wie eine Katze. Bis heute weiß ich nicht, ob die Alte derweil schon mit der Polizei telefonierte. Kann mir auch gleich sein.
Jetzt lebe ich auf der Straße wie ein Clochard. Zum Glück kommt der Sommer, den Erfrierungstod werde ich nicht sterben müssen. Ich habe ein geniales Versteck gefunden, gleich gegenüber von Leonas Haus. Einen kleinen Flecken Erde zwischen dichtbelaubten Büschen direkt hinter dem Zaun der Leute, die hier wohnen. Sie haben keine Kinder, das weiß ich noch aus der Zeit, als ich bei Leona wohnte. Kinder, die im Garten spielen und im Gebüsch herumkriechen, wären eine große Gefahr für mich. Aber diese beiden älteren Herrschaften werden schon wegen ihrer Arthrose nie zu mir hinkommen. Ich muß nur aufpassen, ob sie vielleicht einen Gärtner beschäftigen, das könnte kritisch werden. Bisher zumindest ist keiner aufgetaucht. Im Moment sind die Leute sowieso verreist, jedenfalls sind überall die Läden geschlossen. Mittags erscheint immer eine jüngere Frau, die Putzfrau wahrscheinlich, holt die Post aus dem
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