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Der Verehrer

Der Verehrer

Titel: Der Verehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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der Ecke vertrieben, und auch den alten Mann und den Hund zog es offenbar nicht nach draußen. Nur der Briefträger kam wie stets die Straße entlanggeradelt und winkte Leona zu; er trug die gleiche gelbe Jacke wie sie.
    Das Dorf sah nicht so freundlich aus wie sonst, und Leona dachte zum erstenmal daran, wie trügerisch die sonnige Idylle auch sein mochte. Wurde in einer dieser blütenschweren Frühlingsnächte ein Monster gezeugt wie Robert
Jablonski? Wuchs gerade hier vielleicht schon eines heran, getarnt noch mit einem rundwangigen Kindergesicht, im Innern einen gefährlichen Keim tragend wie einen Tumor, der sich irgendwann öffnen und bösartige Zellen ausschütten würde? Oder saß gar schon jemand hinter einem der weißlackierten Fenster, wie es sie im Dorf bevorzugt gab, lauernd, wartend, eine tickende Zeitbombe, die in nicht allzu ferner Zeit explodieren würde? Man sah es den Menschen nicht an, wenn irgend etwas in ihnen schieflief. Nichts an Robert, nichts in seinen Augen, in seinem Lächeln verriet den Psychopathen. Ein netter Mann, offen und intelligent. Ein Alptraum, der sich erst spät demaskierte.
    Im Gemischtwarengeschäft kaufte sie eine Zeitung, eine Tüte mit Brötchen, etwas Käse und Obst. Sie nahm auch eine Flasche Wein mit für den Abend und zwei Schachteln Zigaretten.
    »Scheußliches Wetter heute«, sagte die Frau an der Kasse, »da haben Sie richtig Pech mit Ihrem Urlaub!«
    »Na ja, die letzten Tage waren ja sehr schön«, meinte Leona.
    »Der Regen wird leider etwas anhalten«, sagte die Frau. »Der Wind kommt von Osten. Das ist kein gutes Zeichen.«
    »Mir gefällt es hier. Ob das Wetter gut ist oder schlecht.«
    »Das ist die richtige Einstellung. Ich sage immer: Es gibt kein schlechtes Wetter. Es gibt nur falsche Kleidung.«
    Leona verließ den Laden, in der einen Hand eine Plastiktüte mit den Lebensmitteln, in der anderen die Zeitung. Die Zeitung roch beruhigend nach Druckerschwärze und Papier, und Leona preßte für einen Moment ihre Nase zwischen die Seiten. Früher, dachte sie, hätte ich den Geruch einer Zeitung nicht als beruhigend empfunden. Ich hätte ihn gar nicht wirklich registriert.
    Früher hätte sie sich auch nicht so über das Winken eines Briefträgers gefreut. Sie hatte schon manchmal gehört,
daß Kranke so fühlten. Daß kleine Alltäglichkeiten für sie an Bedeutung gewannen, daß sie einen Wert entdeckten in Dingen, die sie früher kaum wahrgenommen hatten.
    Ich bin auch eine Kranke, dachte sie, krank an einem Menschen. Krank vor Angst. Wie bei einem Kranken ist mein Leben aus seiner Bahn geworfen. Hinter dem Kampf gegen die Krankheit tritt alles zurück.
    Auf dem Rückweg mußte sie gegen den Wind laufen. Er blies ihr scharf ins Gesicht, trieb die Regentropfen vor sich her, schleuderte sie wie kleine Nadelspitzen gegen Leonas Haut. Sie sehnte sich nach einem heißen Tee. Vielleicht würde sie sogar ein Feuer im Kamin anzünden. Dann würde sie die Zeitung lesen und sich anschließend den Manuskripten widmen, die sie mitgenommen hatte. Es gab manches zu tun. Was ihr fehlte, war nur die innere Ruhe, die sie gebraucht hätte, um ihre Arbeit wirklich sorgfältig zu erledigen.
    Als sie nur wenige Meter noch vom Haus entfernt war, hörte sie drinnen das Telefon läuten. Sie rannte zur Tür, ließ die Zeitung fallen, fand den Schlüssel nicht, fluchte. Als sie ihn endlich aus ihrer Jeanstasche zog, verstummte das Telefon. Trotzdem lief sie noch ins Wohnzimmer, nahm unsinnigerweise den Hörer ab und sagte: »Hallo?« Natürlich hörte sie nur das Freizeichen.
    Die Enttäuschung trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, und ihre Sehnsucht nach einer menschlichen Stimme wurde fast übermächtig. Der Anrufer konnte nur Wolfgang gewesen sein; er allein wußte, wo sie sich aufhielt, kannte die Telefonnummer. Sie hätte ihm gern erzählt, daß es regnete, daß sie Angst hatte, daß sie nachts entweder überhaupt nicht schlief oder böse Träume hatte. Daß die Einsamkeit sie quälte und daß sie alles gegeben hätte für einen Besucher.
    Einen Moment lang war sie versucht, sofort bei Wolfgang
zurückzurufen, aber ihr war klar, daß das keinen Sinn haben würde. Er rief sie immer nur aus Telefonzellen an, eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß seine Apparate daheim und im Büro überwacht wurden.
    »Eine völlig unsinnige Idee«, hatte er gesagt. »Ich wüßte nicht, wie es Jablonski fertigbringen sollte, die Telefone

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