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Der Verehrer

Der Verehrer

Titel: Der Verehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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vor, wie es sein muß, hier aufzuwachsen!«
    Sie setzte sich auf die Schaukel und schwang wild auf und ab. Ich nahm auf dem Stuhl Platz und sah ihr zu.
    »Da, wo du sitzt, sitzt sicher sonst die Gouvernante und paßt auf die Kinder auf!« rief Eva. Ihre langen Haare flogen im Wind.
    Der beschwerliche Weg zurück nach Ascona in unsere Pension verging nun wie im Flug. Wir malten uns eine Kindheit in Ronco aus – unsere Kindheit. Lange, heiße Sommertage. Eine Nanny, die aus England kam und uns abgöttisch liebte. Eine Köchin, die wunderbar kochte und uns immer etwas Gutes zusteckte. Unsere Mutter war eine schöne Frau, die tolle Partys veranstaltete und natürlich nie zuviel trank. Unser Vater trug sie auf Händen, und nie hätte er das Glück seiner Familie wegen irgendwelcher Abenteuer in fremden Betten aufs Spiel gesetzt. Wir überboten einander mit Einfällen, die das herrliche Leben einer rundherum perfekten Familie beschrieben. Zum Schluß war Eva richtig aufgekratzt.
    »Wie ist Mama gestorben?« fragte sie beim Abendessen in einer Straßenkneipe auf der Piazza. »Sie kann sich nicht mit einem Messer selbst erstochen haben, weil Vater sie betrogen hat!«
    Ich überlegte. »Wir könnten sie würdevoll an Krebs sterben lassen.«

    »Oder ein Autounfall«, regte Eva an, »den sie natürlich nicht verschuldet hat.«
    »Das ist gut«, sagte ich, »das ist tragisch!«
    Wir wußten noch nicht, daß wir unser Lieblingsspiel für Jahre gefunden hatten.
    8
    Sie fragte sich, was er so eifrig niederschrieb. Seit Stunden – so kam es ihr vor – saß er da und kritzelte auf seinen Block. Halbnackt, mit nichts als einem Handtuch um die Hüften, hockte er am Tisch, die Stirn gefurcht, das Kinn auf eine Hand gestützt. Er schien vollkommen konzentriert. Er schaute nicht einmal zu ihr hin.
    Lydia versuchte abermals zu sprechen, aber wieder brachte sie nur ein gurgelndes Geräusch hervor. Sie mußte dringend auf die Toilette, und langsam geriet sie in Panik, weil Robert keinerlei Notiz von ihrer Pein nahm. Ihr stand schon der Schweiß im Gesicht, und ihr Herz raste. Vielleicht würde es helfen, wenn sie ihre Lage veränderte, aber er hatte sie so brutal gefesselt, daß sie sich nicht im mindesten bewegen konnte. Sie hatte ein taubes Gefühl in Armen und Beinen, ihre Blutzirkulation schien nicht mehr richtig zu funktionieren. Wäre die Qual, nicht zur Toilette gehen zu dürfen, nicht so groß gewesen, hätte sie dieser Umstand sicher hochgradig beunruhigt. So aber konnte sie darüber kaum nachdenken. Sie kreiste ausschließlich um die Frage, wie sie ihn von seiner ihn offenbar völlig absorbierenden Tätigkeit ablenken und auf sich selbst aufmerksam machen könnte.
    Vielleicht schreibt er einen Erpresserbrief, dachte sie, er will Lösegeld haben für mich.
    Eine lachhafte Vorstellung natürlich. Es war ja nicht nur
so, daß sie keine reiche Familie hatte – sie hatte überhaupt keine Familie. Ein Erpresser würde nicht wissen, an wen er sein Schreiben richten sollte, denn es gab niemanden. Keinen Ehemann, keine Kinder, keinen Liebhaber. Keine Eltern, Geschwister, Onkel oder Tanten.
    Keine Hoffnung, dachte sie erschöpft. Niemand würde anrufen und sich wundern, weshalb sie nicht ans Telefon ging. Niemand würde sagen: »Ich gehe mal bei Lydia vorbei« – und dann feststellen, in welch mißlicher Lage sie sich befand. Niemand würde sich Gedanken machen, weil er schon lange nichts mehr von ihr gehört hatte. Seit Evas Tod hatte sie mit einem einzigen Menschen noch Kontakt gehabt, und das war Leona. Aber auch die würde sich nicht sorgen. An einer Freundschaft war sie ganz deutlich nie interessiert gewesen.
    Lydia gab erneut ein verzweifeltes, drängendes Geräusch von sich. Sie würde jetzt entweder gleich platzen oder in die Hose machen.
    Robert schaute von seinem Notizblock nicht auf. Er sagte nur: »Sei still, oder ich steck dich in den Kleiderschrank in deinem Schlafzimmer!«
    Ihr schossen die Tränen in die Augen; verzweifelt bemühte sie sich, sie zurückzuhalten. Wenn sie heulte, fing auch ihre Nase an zu laufen und war nachher verstopft, und dann bekam sie überhaupt keine Luft mehr, weil sie ja durch den Mund nicht atmen konnte.
    Es gelang ihr, die Tränen zurückzudrängen, aber dann konnte sie keine Kraft mehr aufbringen. Unter ihr und um sie wurde es feucht und warm. Im ersten Moment konnte sie nichts empfinden als tiefe Erleichterung. Doch im nächsten Augenblick schon spürte sie brennende Scham, und ihre

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