Der Verehrer
Kind!« sagte Carolin. In ihrer Stimme kündigte sich erneut Panik an. »Er ist ein fünfjähriges Kind! Er hat Angst. Er weiß nicht, was los ist. Er … ich darf mir das nicht ausmalen …«
Sie preßte das Papiertaschentuch, das Leona ihr gegeben hatte, gegen den Mund.
»Ein paar Gründe mehr, unverzüglich mit mir zu kooperieren«, entgegnete Robert ungerührt.
Er griff nach der Kaffeekanne und stellte fest, daß sie leer war.
»Machst du mir noch einen Kaffee?«
»Mach ihn dir doch selbst«, murmelte Carolin.
Robert stand auf und ging in die Küche.
Oben, in ihrem Zimmer, packte Leona hastig ein paar Sachen in einen kleinen Koffer. Sie merkte gar nicht genau, was sie da zusammenwarf. Wäschestücke, Schuhe, einen Pullover … In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie überlegte fieberhaft, was sie am besten tun sollte.
Robert hatte gesagt, er wolle mit ihr ins Ausland. Nach Südamerika.
»Hast du Flugtickets?« hatte sie gefragt. »Oder Geld?«
Er hatte stolz genickt. »Ich habe eine Scheckkarte. Ich kann Geld abheben, soviel ich will. Die Tickets sind also kein Problem.«
Wie stellte er sich das vor? Er wurde mit Haftbefehl gesucht. Glaubte er, es sei so einfach für ihn, in ein Flugzeug zu steigen und Deutschland zu verlassen? Er fühlte sich unendlich sicher durch die Tatsache, daß nur er wußte, wo sich Felix’ Versteck befand. Leona aber war der Ansicht, daß ihm das nur Sicherheit gab, solange es sie und Carolin betraf. Sie beide spurten, weil sie verrückt waren vor Angst um das Kind, besonders Carolin. Die Polizei würde ihn nicht tatenlos ziehen lassen. Sie würden ihn nicht nach Südamerika reisen lassen, sie würden ihn festnehmen und verhören, so lange, bis er mit der Sprache herausrückte.
War ihm das nicht klar?
Sie sagte sich, daß er verrückt war. Auch wenn man es ihm nicht anmerken konnte, auch wenn er völlig normal wirkte im Gespräch – er war verrückt, das mußte sie sich immer wieder vor Augen halten. Er hatte zwei Menschen bestialisch ermordet. Er hatte Paul beinahe totgeschlagen. Sie erinnerte sich an die Mordlust, die sie in seinen Augen
gelesen hatte, als er in Ascona über ihren abgelegten Ring die Nerven verlor. Er war krank, und vermutlich rechnete er sich die Konsequenzen seines Handelns nicht aus, machte sich nicht klar, daß er kaum eine Chance hatte, in ein Flugzeug zu gelangen. Oder er machte es sich klar, setzte aber alles auf eine Karte.
»Ich habe absolut nichts mehr zu verlieren«, hatte er vorhin unten zu Carolin gesagt. Dies Bewußtsein mochte ihm die Zielstrebigkeit verleihen, mit der er seinen Plan verfolgte.
Sie schloß den Koffer mit all den unsinnigen Sachen darin, sah sich nach ihrer Handtasche um. Sie hätte wahrscheinlich die Möglichkeit, die Polizei zu verständigen. Oder Wolfgang. Robert ließ sie und Carolin sich frei im Haus bewegen, spielte keineswegs den scharfen Bewacher. Sie hätte Jens und Tim vorhin einen Tip geben können. Sie hatte es nicht getan, und sie fragte sich, ob das ein Fehler gewesen war.
Aber was sollte aus Felix werden? Sie wußte nicht, ob es Instinkt war oder die Tatsache, daß sie Robert gut genug kannte, aber sie hatte das sichere Gefühl, daß er, sollte sie oder Carolin ihn verraten, Stillschweigen über Felix’ Aufenthaltsort bewahren würde bis zum Jüngsten Gericht. Er war rachsüchtig und fanatisch. Und er hatte – sie kam immer wieder auf denselben Punkt zurück – nichts zu verlieren.
Ich kann nur eines tun, dachte Leona: mitspielen, solange es geht. Das ist vielleicht im Moment die einzige Chance. Irgendwann würden sie durch eine Paßkontrolle gehen müssen. Sie hoffte von ganzem Herzen, daß dann niemand die Nerven verlor.
Als sie hinunterkam, traf sie nur Carolin im Wohnzimmer an. Auf dem Tisch stand eine Kanne mit frischem Kaffee, daneben die drei benutzten Tassen. Carolins Gesicht sah knochig aus, ihre Lippen waren grau.
»Wo ist Robert?« fragte Leona und stellte ihren Koffer ab.
»Der macht irgend etwas an seinem Auto. Er will schnell los. Leona, was sollen wir nur tun?«
Carolin riß die Augen auf wie ein Kind, das angstvoll und ratlos darauf wartet, daß ein Erwachsener eine Lösung finden wird.
»Du kannst doch jetzt nicht mit ihm davonfahren und nach Südamerika fliegen?!«
»Ich denke, daß wir so weit gar nicht kommen werden.«
Leona sprach schnell und leise und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, daß Robert noch nicht wieder aufgetaucht war.
»Spätestens bei
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