Der Verehrer
das Thema völlig verausgabt und erschöpft; nun ließ sie Diskussionen von vornherein nicht mehr zu.
Leona kapitulierte. Die meisten Leute taten das. Sie kapitulierten nicht aus Angst vor Olivias fauchender Stimme, sondern aus Mitleid mit ihrem müden, ausgezehrten Gesicht und ihrem viel zu dünnen Körper. Olivia vermittelte so deutlich den Eindruck, am Rande ihrer Kräfte zu stehen, daß jeder sich schäbig vorkam, der ihr zusätzliche Probleme bereitete.
»Okay«, sagte Leona, »vergiß es. Du mußt allein wissen, was du tust.« Olivia atmete tief durch, dann trat sie auf Dany zu, die sofort zu schreien begann. »Dany, ich möchte, daß du jetzt ins Bett gehst«, sagte sie. Dany spuckte ihr ins Gesicht. Leona fragte sich, wie ihre Schwester dieses Kind noch lieben konnte.
Innerhalb weniger Sekunden hatte sich der gleiche Zweikampf wie schon zuvor entwickelt, aber diesmal wurde er abrupt von dritter Seite beendet: Ein hochgewachsener Mann trat ins Zimmer, schob Olivia zur Seite, packte Dany und drehte ihr mit geübtem Griff beide Arme auf den Rücken. Dany schlug nach hinten aus, bombardierte seine Schienbeine mit Tritten. Er packte die Arme etwas fester. Dany fauchte, hörte aber auf zu treten.
»Wohin mit ihr?« fragte er keuchend und stieß sie vor sich her in Richtung Tür.
»In ihr Zimmer«, sagte Olivia, »und tu ihr nicht weh!«
»Nicht, wenn sie mir nicht weh tut «, entgegnete ihr Mann und bugsierte die nun recht willige Dany auf den Flur hinaus. Olivia folgte den beiden. Danys Vater kehrte nach fünf Minuten ins Wohnzimmer zurück. Er schob seine verrutschte Krawatte zurecht und strich sich über die Haare. Wer ihn nicht kannte, hätte ihn als erstaunlich
ruhig empfunden, aber Leona konnte die verhaltene Wut in seinem Gesicht erkennen, den Zorn, den er mühsam zurückdrängte. Er atmete schwer.
»Guten Abend übrigens«, sagte er.
»Guten Abend, Paul«, erwiderte seine Schwiegermutter unter völliger Nichtbeachtung dessen, was gerade geschehen war. »Jetzt, wo alle da sind, werde ich mich um das Abendessen kümmern.«
Sie lächelte. Sie liebte es, die Familie versammelt unter einem Dach zu wissen. Sie ignorierte Spannungen so perfekt, daß Leona manchmal mutmaßte, sie glaube selbst daran, daß um sie herum alles in Ordnung war.
Leona und Paul blieben allein im Zimmer. Paul gab den Versuch, seine Krawatte zu richten, auf, zerrte sie vom Hals und schleuderte sie in einen Sessel.
»Gott im Himmel«, sagte er wütend, »ich weiß schon gar nicht mehr, wie sich das anfühlt, wenn man nach einem harten Arbeitstag heimkommt und von Ruhe und Frieden statt von Geschrei und Ringkämpfen empfangen wird. Es muß das Paradies sein.«
»Olivia sagte, es sei besser gewesen mit Dany in der letzten Zeit.«
Paul lachte. Es klang müde und unfroh. »Wenn Dany einen Tag friedlich ist, wird Olivia schon euphorisch. Die Wahrheit ist, daß es an acht von zehn Tagen zu Szenen der Art kommt, wie du sie gerade erlebt hast. Es wird schlimmer. Und zwar einfach deshalb, weil Dany immer stärker wird. Sie hat Bärenkräfte entwickelt. Du siehst ja, daß Olivia schon überhaupt nicht mehr mit ihr fertig wird. Und ich werde es auch nicht mehr lange schaffen.«
»Olivia muß das doch auch sehen.«
»Ich glaube, bei Olivia schlagen die Gene eurer Mutter durch«, sagte Paul bitter. »Sie will nicht wahrhaben, daß
wir in einer katastrophalen Situation leben, also darf diese Tatsache mit keiner Silbe erwähnt werden. Wenn ich das Wort ›Heim‹ ausspreche, springt sie mir fast ins Gesicht.«
Leona wußte, daß er mit der »katastrophalen Situation« nicht nur die täglichen Zweikämpfe mit Dany meinte. Er haßte es vor allem, wegen des Kindes im Haus seiner Schwiegereltern leben zu müssen. Für kurze Zeit hatten sie es mit einer eigenen Wohnung versucht, aber Olivia war völlig überfordert gewesen; sie hatte sich keinen Schritt aus dem Haus rühren können, um wenigstens die nötigsten Einkäufe zu tätigen.
Dany war natürlich schulpflichtig, aber sowohl sie als auch ihre Mutter taten alles, um regelmäßige Besuche der einzig erreichbaren Behindertenschule zu boykottieren. Dany entwickelte die verrücktesten Krankheiten und fieberte häufig erschreckend hoch, sobald sie länger als drei Tage hintereinander an dem ihr verhaßten Unterricht teilnehmen mußte. Olivia verlor darüber vollends die Nerven und war oft noch kranker als ihre Tochter. Das Ergebnis war, daß sich Dany viel zu oft daheim aufhielt, als daß die
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