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Der Verehrer

Der Verehrer

Titel: Der Verehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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aus. Er betrachtete sie liebevoll, und sie sah ebenfalls in diesem Moment zu ihm hin und erwiderte sein kaum merkliches Lächeln. Doch sie wirkte gequält. Bedrückt stellte er fest, daß er sich geirrt hatte. Auch um Leona mußte man sich sorgen.
    Und Leona begriff in diesem Moment, weshalb sie es nicht wagte, das Scheitern ihrer Ehe zu gestehen. Es war die Müdigkeit in den Augen ihres Vaters. Es war der tapfere Optimismus, mit dem ihre Mutter zwischen Olivia und Carolin vermittelte, sich um Dany bemühte, Carolins schmarotzenden Freund entgegenkommend behandelte.
Es war die eiserne Entschlossenheit, mit der ihre Eltern an ihrer Vorstellung von einer intakten Familie festhielten – und es damit tatsächlich schafften, das brüchige Gefüge weiterbestehen zu lassen. Sie wußte, daß Elisabeth und Julius einen nicht unerheblichen Teil ihrer Kraft aus der Tatsache schöpften, daß wenigstens Leona in einer stabilen Beziehung lebte, daß sie glücklich war und sich mit vergleichsweise unbedeutenden Problemen herumschlagen mußte. Sie brauchten diese Gewißheit, um glauben zu können, daß sie das waren, was sie unter allen Umständen sein wollten: eine große, glückliche Familie, in der es zwar dann und wann ein paar Schwierigkeiten gab, in der aber nicht ernsthaft jemals etwas in Unordnung geriet.
    Sie brachte es nicht fertig, sie zu enttäuschen, so absurd diese Komödie auch war, die sie spielte. Irgendwann würden sie es erfahren und nicht im mindesten verstehen, warum sie so lange geschwiegen hatte.
    Die gute Tochter, dachte sie sarkastisch, die gute Tochter, bei der nichts schiefläuft. Irgend etwas muß ich einmal tun, was niemand von mir erwartet.
     
    Am nächsten Tag ging sie zum Friseur im Dorf und ließ sich ihre Lorelei-Haare raspelkurz abschneiden. Sie fand sich nicht schöner danach, aber erstaunlicherweise fühlte sie sich trotzdem besser.
    8
    Sie sah ihn wieder im November, am Totensonntag. Ein nasser, windiger, grauer Tag. Ein Sturm hatte in der Nacht zuvor die letzten Blätter von den Bäumen gezerrt, und nun trieb er seit dem frühen Morgen immer neue schwarze
Wolken von Westen heran. Es regnete ohne Unterlaß. Bis zum Abend, so hatten die Meteorologen prophezeit, werde der Regen in Schnee übergehen. Seit der Beerdigung war Leona nicht mehr an Evas Grab gewesen, aber an diesem Tag verspürte sie plötzlich ein unerklärliches Bedürfnis danach. Ein dankbarer Autor, für dessen Werk sie sich eingesetzt hatte, hatte ihr am Freitag einen Rosenstrauß in den Verlag geschickt. Am Samstag, während ihres einsamen Frühstücks, war ihr der Gedanke gekommen, die Rosen zu Eva zu bringen.
    Sie ging am Mittag auf den Friedhof. Die meisten Leute schienen zu essen um diese Zeit, denn kaum jemand war zwischen den Gräbern zu sehen. Eine alte Frau schleppte eine gefüllte Gießkanne die Wege entlang; sie tat sich schwer damit, schien aber einer Routine zu folgen, von der es kein Abweichen gab: Trotz des strömenden Regens mußte sie ein Grab – wahrscheinlich das ihres Mannes – begießen.
    Evas Grab sah ziemlich verwildert aus. Hatte Robert vergessen, den Auftrag für die Grabpflege zu erteilen? Oder hatte Lydia diese Verpflichtung an sich gerissen und war nun zu bequem, ihr wirklich nachzukommen?
    Sie kauerte sich nieder, entfernte welke Blätter und einiges Unkraut. Evas Name auf dem schlichten Grabstein rief eine tiefe Traurigkeit in ihr hervor, und erst nach einer Weile merkte sie, daß alles zusammen ihr Schmerz verursachte: der Herbst, der Regen, die kahlen Bäume, der Friedhof, ihre Einsamkeit. Die Hoffnungslosigkeit, daß Wolfgang zu ihr zurückkommen würde. Die Gewißheit, daß, selbst wenn er es täte, nichts mehr je so sein konnte, wie es gewesen war.
    Sie schrak zusammen, als sie angesprochen wurde.
    »Leona? Sind Sie das?«

    Sie sprang auf und drehte sich um. Hinter ihr stand Robert Jablonski, noch nasser als sie, wenn das überhaupt möglich war. Sie starrte ihn an.
    »Mein Gott, ich habe Sie überhaupt nicht kommen hören! Ich hätte Sie hier gar nicht vermutet. Ich dachte, Sie sind in Ascona!«
    »Tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe«, sagte er entschuldigend. »Ich dachte, Sie hätten meine Schritte gehört.«
    »Der Regen. Er rauscht so laut.«
    »Ich habe einen Spaziergang über den Friedhof gemacht, weil es schon gar nicht mehr darauf ankam, wie naß ich noch werde. Jetzt wollte ich zum Schluß noch einmal an Evas Grab.« Er wies auf die Rosen, die Leona direkt unter den Stein

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