Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
und ist wie ein byzantinischer Prinz erzogen worden, bevor er eine kometenhafte Karriere in der orthodoxen Kirche machte: Mönch, Diakon, Priester, Abt, Erzbischof, Metropolit und vielleicht schon bald der nächste Patriarch von Konstantinopolis! Ich glaube, auch Bruder Caedmon träumt von einem solchen Aufstieg. Er ist der illegitime Sohn eines englischen Earls, der eine junge Kammerzofe aus dem Haushalt seines Freundes, des Herzogs von Gloucester, in sein Bett holte. Vielleicht ist er Niketas gefolgt, um seine Bekanntschaft zu machen, hat sich dann aber nicht getraut, ihn anzusprechen?«
»Ich danke Euch, dass Ihr meine Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet habt!«
Der Abt verneigte sich. Der Papst reichte ihm die Hand zum Kuss, dann verließ Fra Piero Tomacelli mit gefalteten Händen rückwärts schreitend das Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich.
»Euer Heiligkeit, bevor wir unterbrochen wurden, wolltet Ihr mir gerade sagen, welche Logien Luca Euch in Ferrara gezeigt hat«, nahm ich den abgerissenen Gesprächsfaden wieder auf.
Eugenius lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Alessandra, Ihr seid die Tochter eines Inquisitors! Ihr und Euer Vater seid Euch in gewisser Hinsicht sehr ähnlich - das hat schon mein illustrer Amtsvorgänger Papst Martin erkannt!«, meinte er lächelnd. Dann wurde er wieder ernst. »Doch nun zu Eurer Frage: Luca hat mir die Abschrift von sechs Logien gezeigt.«
Ich zog Tayebs Skizze der vier Fragmente aus der mitgebrachten Truhe und reichte sie dem Papst.
»So sehen die Papyri also aus!«, murmelte er und betrachtete die Skizze. »Wie winzig sie sind! Und die Schrift ist kaum lesbar. Es ist nicht viel, wofür Ihr Euer Leben aufs Spiel gesetzt habt. Habt Ihr in der Kammer der Synagoge noch mehr gefunden?«
»Eine Handvoll Papyrusfetzen mit weiteren, vermutlich unvollständigen Sprüchen Jesu. Als ich aus der einstürzenden Genisa floh, sind die Fragmente in winzige Teile zerfallen. Ich muss sie erst wieder zusammensetzen. Das wird einige Tage dauern.«
Nachdenklich musterte er mich. »Seid Ihr dazu imstande?«, fragte er schließlich. »Ich will niemand anderen einweihen.«
»Ich werde es schaffen«, versicherte ich. »Nicht zum ersten Mal rekonstruiere ich einen zerbrochenen antiken Papyrus.«
»Ich weiß. Deshalb hatte ich Euch ja nach Montecassino geschickt. Es ist nur ... Bitte verzeiht! Ihr seid eine Frau. Und Ihr habt nicht Theologie stu...«
»Ihr doch auch nicht, Euer Heiligkeit! Und trotzdem seid Ihr oberster Glaubenswächter der Christenheit.« Er wollte etwas einwerfen, doch ich ließ mich nicht unterbrechen: »Mein Vater hat mich Latein gelehrt, als ich fünf Jahre alt war. Mit sieben sprach ich fließend Griechisch. Luca war einer der bedeutendsten Theologen Italiens. Es ist wahr, ich habe nicht Theologie an einer Universität studiert. Doch in den letzten Jahren habe ich Hunderte von theologischen Werken in Klosterbibliotheken wie der von Montecassino gelesen und mit eigener Hand kopiert. Jahrelang habe ich mich mit so vielen von der Kirche verdammten Schriften beschäftigt, dass ich am Ende selbst der Häresie verdächtigt wurde! Wem also wollt Ihr diese Aufgabe anvertrauen, wenn nicht mir?«
Er atmete tief durch. »Also gut! Ich hatte Luca gebeten, das Evangelium zu rekonstruieren. Meinen Sekretär habe ich angewiesen, ihn jederzeit zu mir zu lassen. Dasselbe gilt künftig für Euch. Ihr steht unter meinem persönlichen Schutz.«
»Danke, Heiliger Vater.«
»Seit meinem Aufbruch in Ferrara hatte ich noch keine Gelegenheit, mich mit der Gnosis zu beschäftigen. Ich habe auf Lucas umfassendes theologisches Wissen vertraut. Ich werde Fra Serafino bitten, mir einige Werke aus der Bibliothek von San Marco zu bringen.«
»Das ist nicht nötig.« Ich öffnete die mitgebrachte Truhe und legte einen schweren Folianten auf seinen Schreibtisch. »Eusebius von Caesareas Kirchengeschichte.« Dann folgten die übrigen Bücher: Hippolytos von Rom, Cyril von Jerusalem, Clemens von Alexandria und Irenaios von Lyon. »Diese Kirchenväter haben sich mit gnostischen Evangelien befasst. Die entsprechenden Stellen habe ich für Euch gekennzeichnet. Bei Clemens werdet Ihr einen Spruch finden, der einem der gnostischen Logien sehr ähnlich ist. Folglich muss das Evangelium aus der Zeit vor dem zweiten Jahrhundert stammen. Irenaios und Hippolytos haben bestritten, dass Paulus ein Gnostiker war. Doch lest selbst!«
Ich hob ein weiteres Buch aus der
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