Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
letzten Fragmente zusammen, die die beiden längsten Logien bewahrten.
»Jesus sprach: Ich habe Feuer in die Welt geworfen. Und siehe, ich bewahre es, bis es lodert‹«, murmelte Niketas ergriffen. »Einen ähnlichen Spruch gibt es im Evangelium des Lukas, wo Jesus sagt: ›Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen. Und wie wünschte ich, es wäre schon entfacht!‹«
Behutsam wendete ich die zerbrochenen Fragmente und fügte sie zum letzten und bedeutendsten Logion zusammen.
»›Die Jünger sprachen zu Jesus ...‹«, las Niketas, dann verstummte er. »Allmächtiger Gott!«
Niketas starrte auf die Papyrusfetzen vor sich auf dem Tisch. Seine Lippen bewegten sich, und ich erahnte ein triumphierendes ›Ich wusste es! Ich hatte Recht!‹.
Mit funkelnden Augen las er vor: »›Die Jünger sprachen zu Jesus: Wir wissen, dass du uns verlassen wirst. Wer wird uns dann führen? Jesus sagte zu ihnen: Wo immer ihr dann sein werdet, geht zu Jakob dem Gerechten, um dessentwillen der Himmel und die Erde entstanden sind.«‹ Er strahlte mich an. »Unglaublich!«
»Du weißt, wer Jakob der Gerechte war?«
»Ja.«
»Ich nicht«, gab ich zu und wies auf den Stapel von dicken Folianten auf dem Tisch. »Die halbe Nacht habe ich die Bücher der Kirchenväter gewälzt, um herauszufinden, wen Jesus zu seinem Nachfolger bestimmt hat!«
Niketas lächelte vergnügt. »Und was hast du herausbekommen?«
»Zunächst ist mir aufgefallen, dass dieses Logion eine gewisse Ähnlichkeit mit dem berühmten ›Tu es Petrus ...‹ hat, wo Jesus seinen Jünger Petrus zum Fels der Kirche und ersten Papst bestimmt.« Ich holte tief Luft. »Doch hat der Jude Jeschua wirklich eine Kirche gegründet?« Ich ergriff eines der Bücher auf meinem Schreibtisch und zeigte Niketas den alten, halb zerfallenen Folianten. »Kennst du dieses Werk?«
Er las den hebräischen Titel auf dem Buchrücken. Bedächtig öffnete er den abgegriffenen Ledereinband, schlug die erste Seite auf und betrachtete das Titelblatt. »Das ist Der Prüfstein von Rabbi Shemtov Ibn Shaprut. Vor rund sechzig Jahren hat er das Buch in Spanien verfasst«, staunte Niketas, während er durch die eng beschriebenen Seiten blätterte. »Die Kirche verbrennt dieses Buch, weil es häretisch ist. Es gibt nur ganz wenige Exemplare. Du lieber Himmel, welche kostbaren Schätze bewahrst du noch in deiner Bibliothek?«
»Lass dir viel Zeit, das herauszufinden!«, neckte ich ihn.
»Mach ich!«, versprach er lächelnd. »Darf ich es lesen?«
»Wenn du möchtest.« Ich beobachtete, wie er über die tintengewellten Seiten strich. »Woher kennst du dieses Buch?«
»Rabbi Aviram hat es vor Jahren erwähnt, als ich ihn fragte, warum die Christen uns Juden als ›Christusmörder‹ und ›Feinde Gottes‹ beschimpfen. Ich wusste doch nicht, wer jener Christus gewesen war, dessen geschundenen Leichnam die Gojim in ihren Kirchen anbeteten! Mein Vater erzählte mir dann die Geschichte von Jesu Kreuzigung und Tod und erwähnte auch dieses Buch, das er sehr gern gelesen hätte.«
»Was weißt du darüber?«
»Rabbi Shemtov hat es nach einer Disputation mit Kardinal Pedro de Luna geschrieben, dem späteren Gegenpapst Benedikt XIII., den dein Vater in Konstanz abgesetzt hat. Der Prüfstein ist eine Art Handbuch für jüdisch-christliche Glaubensdisputationen zwischen Rabbinen wie Shemtov Ibn Shaprut und christlichen Theologen wie Pedro de Luna. Es ist eine Verteidigung des jüdischen Glaubens mit christlichen Waffen. Dieses Buch soll jenes hebräische Evangelium enthalten, das die Kirchenväter in ihren Schriften erwähnen.«
»Das stimmt!« Ich schlug das zwölfte Kapitel des Prüfsteins auf und zeigte es ihm.
»Das Evangelium des Mattitjahu!«, staunte er, als er die ersten hebräischen Zeilen überflog. »Dann ist es also wahr, was die Kirchenväter geschrieben haben! Dieses seit der Antike verschollene Evangelium existiert wirklich!«
Ich nickte ernst. »Du hältst es in deinen Händen!«
Behutsam blätterte Niketas durch Shemtovs Evangelium. »Glaubst du, dass es echt ist?«, fragte er schließlich. »Ich meine: Rabbi Shemtov könnte den griechischen Evangelientext des Matthäus lediglich ins Hebräische übersetzt haben.«
»Es ist echt«, versicherte ich ihm. »Vittorino war ein Rabbi, bevor er konvertierte. Er hat sich eingehend mit dem Text beschäftigt. Er ist überzeugt, dass Shemtov Ibn Shaprut nicht der Verfasser dieses hebräischen Evangeliums ist. Es ist echt.«
»Wie viele
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