Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
Abweichungen vom griechischen Text gibt es?«
»Ich habe sie nicht gezählt, es sind zu viele«, gestand ich und schlug das Evangelium auf. »Die bedeutendste Sinnverschiebung findest du in den berühmten Worten der Kirchengründung ›Tu es Petrus ...‹.« Ich wies auf die Textstelle: »Lies selbst!«
Niketas zog das Buch zu sich heran. »›Du bist ein Stein. Und auf dir will ich mein Haus des Gebets bauen‹«, übersetzte er den hebräischen Text. »Da steht wirklich Bet Tefilla, Haus des Gebets! Rabbi Jeschua wollte eine Synagoge errichten - keine Kirche!«
»So ist es«, nickte ich, schloss das Buch und schob den Prüfstein auf die andere Seite des Schreibtischs. »Was uns zu unserem Logion zurückführt. Und zur Frage: Wer ist dieser Jakob, den Jesus zu seinem Nachfolger bestimmte?«
»Und?«
»Jakob ist Jesu Bruder.« Niketas nickte still.
»Der Herrenbruder Jakobus war der erste Führer der nazoräischen Gemeinde von Jerusalem. Er, und nicht Petrus, war ...«
Kapitel 16
»... der erste Papst«, ergänzte ich. »Der vergessene Papst.«
Alessandra nickte. »Und du hast es die ganze Zeit gewusst?«
»Die Schriften der Kirchenväter lassen daran keinen Zweifel. Jakobus war der erste Bischof von Jerusalem, von Christen und Juden gleichermaßen hoch geschätzt. Selbst Paulus gibt zu, dass Jesu Bruder der Führer der christlichen ›Kirche‹ war. Zu seiner Zeit waren die Gemeinden von Antiochia, Ephesos, Korinth oder Rom neben Jerusalem noch unbedeutend und Jakobus als Oberhaupt Gehorsam schuldig. Jerusalem war der Ort, an dem Jesus gekreuzigt worden war. Auf dem Ölberg wurde der Messias in allernächster Zeit zurückerwartet.«
»Jakobus war also das Oberhaupt der Christenheit - der erste Papst mit einem gerechtfertigten Primatsanspruch über alle anderen Bischöfe.«
»So ist es. Der Kirchenvater Eusebius stellte Jakobus' Primat nicht infrage, obwohl die führende Rolle von Jesu Brüdern bereits durch die Evangelisten geleugnet worden war. Lukas, ein Freund von Paulus, erwähnte Jakobus in seinem Evangelium mit keinem Wort. Und in der Apostelgeschichte nennt er nur äußerst widerwillig seinen Namen - ohne den Ehrentitel ›der Gerechte‹ und ohne zu bekennen, wer er war und was er war: Jakobus der Herrenbruder, der Führer der Gemeinde.«
»Und im Zuge der Vergöttlichung Jesu wurden seine menschlichen, seine jüdischen Brüder zum Ärgernis, das von den Kirchenvätern beseitigt werden musste. Sie erklärten sie zu Cousins oder ...«
Sie verstummte, als es klopfte.
Fra Serafino steckte den Kopf herein. »Bitte verzeiht die Störung. Aber Seine Seligkeit hat Besuch!« Mit einem Lächeln wich er zur Seite und ließ den Mann, der hinter ihm gestanden hatte, eintreten.
Ich sprang auf. »Natanael!«
Mein Bruder umarmte mich. »Ich freue mich, dich zu sehen! Wie geht es dir?«
»Es geht mir gut. Wolltest du nicht erst in einigen Tagen nach Florenz kommen?«
»Basilios hat beschlossen, den Patriarchen zu begleiten. Aber der ist so gebrechlich, dass er die Reise über die verschneiten Berge nicht überstehen kann. Joseph wird also erst in zwei Wochen aufbrechen. Da ich nicht so lange warten wollte, habe ich mich dem Gefolge des Metropoliten von Kiew angeschlossen. Die Stimmung in Ferrara ist ... nun ja ...«
»Was ist geschehen?«
Mein Bruder zupfte an dem aufgesteckten gelben Judenkreis auf seiner Kleidung. »Ich bin angegriffen worden.«
»Ich werde den Papst um einen Dispens bitten. Du musst dieses demütigende Abzeichen nicht länger ...«
»Nein, Niketas! Ich bete zum Allmächtigen, dass das Konzil nun bald beendet sein wird und wir endlich nach Hause zurückkehren können.«
Ich führte ihn zu Alessandra, die sich bei seinem Eintreten erhoben hatte. »Darf ich dir meinen Bruder vorstellen? Natanael, das ist Alessandra.«
»Sei herzlich willkommen, Natanael!« Sie küsste ihn auf beide Wangen.
Mein Bruder war gerührt von ihrer Herzlichkeit. »Als ich vor einer Stunde in San Marco nach Niketas fragte, hat mich Fra Serafino empfangen. Er sagte mir, dass ich ihn bei Euch ... bei dir finden würde. Er zeigte mir das Grab deines Vaters. Es tut mit sehr leid.«
Alessandra nickte stumm.
Ich legte meinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Setz dich zu uns, Natanael. Wir sprachen gerade über Jakobus.«
Alessandras Blick irrte zu den Fragmenten, die sie bei seinem Eintreten unter Ibn Shapruts Prüfstein verborgen hatte.
»Hieronymus berichtete von Jakobus als erstem Bischof von Jerusalem
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