Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
wundern wirst, man muss das ganze Leben lang lernen zu sterben.«‹ Serafino sah auf. »Lucas Lieblingsbuch! Es lag immer neben seinem Bett. Jede Nacht hat er darin gelesen. Aber ich verstehe nicht ...«
Ich nahm ihm das Bändchen aus der Hand, schlug die letzte Seite auf und zeigte ihm die mit festem Pergament verstärkte Innenseite des hinteren Buchdeckels. Während ich mit Cesarini speiste und ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit von der Entdeckung des antiken Markus-Evangeliums erzählte, hatte Tayeb die Papyrusfragmente unter dem Pergament verborgen und den Buchdeckel wieder verleimt.
»Wo ist die Tasche mit dem Werkzeug?«, fragte Tayeb.
»Unter dem Altar. Ich hole sie.« Serafino verschwand in der Apsis und kehrte gleich darauf mit der Tasche zurück, die Tayeb bereits am Nachmittag nach San Marco gebracht hatte.
Jeder von uns nahm zwei Kerzen vom Altar und trug sie zu Lucas Epitaph. Eine Platte aus weißem Marmor verbarg die Grabnische, die in Augenhöhe in die rechte Seitenwand der Basilika eingelassen war. Die Inschrift fehlte noch.
Ich legte das Büchlein auf einen Altar neben Lucas Grab. Dann hielten Serafino und ich mit ausgestreckten Armen die Marmorplatte fest, während Tayeb sie mit dem Brecheisen aus der Nische herausstemmte. Knirschend ruckte sie einen Fingerbreit. Dann noch einen. Als Tayeb das Brecheisen erneut ansetzte, schlug er versehentlich gegen die Kirchenwand.
Der metallische Klang hallte durch die Basilika.
Hatte er die Mönche geweckt? Fra Antoninos Zelle befand sich direkt über Lucas Grabmal.
Wir hielten den Atem an und lauschten.
»Schritte im gefrorenen Schnee!«, flüsterte Serafino panisch.
»Es kam nicht aus dem Kreuzgang, sondern von der Piazza San Marco. Ich werde nachsehen!« Ich huschte zum Kirchenportal, öffnete es einen Spaltbreit und spähte hinaus auf die Piazza, die still und verlassen vor mir lag.
War da nicht ein Schatten - dort an der Mauer des Gartens von San Marco? Der Schemen verharrte reglos. Leise zog ich mich zurück, ließ das Portal ins Schloss fallen.
»Und?«, fragte Serafino ängstlich.
»Alles ruhig«, beruhigte ich ihn. »Lasst uns weitermachen!«
Tayeb ergriff das Brecheisen und schob es in den schmalen Spalt. Knirschend gab die Grabplatte einen weiteren Fingerbreit nach. Dann noch einen.
»Die Platte ist schwer!«, ächzte Serafino, der mit aller Kraft dagegenhielt.
»Nur so können wir sicher sein, dass der Dominikaner das Evangelium nicht stehlen kann«, keuchte ich.
Der Spalt zwischen Grabnische und Marmorplatte war nun breit genug. Tayeb legte das Eisen auf den Boden und drängte sich mit ausgestreckten Armen von hinten gegen mich. »Ich halte sie fest! Hol das Evangelium!«
Ich wand mich unter ihm heraus und schob das Buch in das Grabgewölbe. Dann wuchteten Tayeb und Serafino die Grabplatte zurück.
Serafino half uns, die Kerzen zum Altar zurückzutragen und die Tasche mit dem Werkzeug wieder zu verstecken. Tayeb wollte sie am nächsten Morgen abholen.
Ich umarmte Serafino. »Schlaf gut.«
»Du auch.«
Er löschte die Kerzen und begleitete uns durch das dunkle Hauptschiff zum Portal. Tayeb und ich traten hinaus auf die Piazza, während Serafino hinter uns das Tor verriegelte und in seine Zelle zurückschlich. Bis zum Morgengebet blieb ihm nicht mehr viel Zeit.
Der Mond tauchte die verschneite Piazza in ein silbergleißendes Licht und ließ die schneebedeckten Obstbäume im Garten von San Marco wie groteske Gestalten in schwarzweißem Habit erscheinen. Atemlos verharrte ich neben dem Kirchenportal und blinzelte zum Garten hinüber. Jener Schatten dort - war das ein Mensch?
»Ich sehe ihn auch«, wisperte Tayeb neben mir. »Sein weißer Atemhauch verrät ihn.«
»Er keucht, weil er gerannt ist«, vermutete ich. »Er war hier am Portal, um uns zu beobachten. Als Serafino die Altarkerzen gelöscht hat, ist er überstürzt in den Garten geflohen.«
»Er hat Angst. Er fürchtet, wir könnten ihn bemerkt haben.«
»Glaubst du, er weiß, wo wir das Evangelium versteckt haben?«
Tayeb schüttelte den Kopf. »Er hat das Kirchenportal nicht weit genug geöffnet, um Lucas Grab sehen zu können. Den Lichtschein des Mondes hätten wir bemerkt.«
Kurz entschlossen legte ich Tayeb meinen Plan dar. Wir trennten uns: Er verschwand in Richtung Santissima Annunziata, ich huschte über die Piazza zum Garten, wo sich der Dominikaner verborgen hielt.
Als er mich kommen sah, floh er zwischen den Obstbäumen hindurch zum südlichen
Weitere Kostenlose Bücher