Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
Ruhe darüber nachzudenken, ob Ihr die Tochter eines Heiligen sein wollt ...«
»Hast du das Buch?« Ich nickte.
»Dann lass uns gehen! Die Nacht ist sternenklar. Wenn der Vollmond aufgeht, ist es auf der Piazza so hell, dass du das Buch im Mondschein lesen kannst.« Tayeb öffnete das Fenster meines Arbeitszimmers - die Tür hatte ich von innen verschlossen. Er kletterte hinaus auf das Gesims und half mir herauf. Während ich über den schmalen Vorsprung kroch, zog er das Fenster hinter sich zu.
Dann erklommen wir das Dach des Pferdestalls und sprangen auf die Straße, die zum Domplatz führte. Wir verschmolzen mit den Schatten der Kathedrale, huschten an der Fassade entlang, schlüpften zwischen Campanile und Basilika hindurch und eilten über die Domstufen zum Borgo San Lorenzo, einer schmalen, finsteren Gasse, die westlich der hell erleuchteten Via Larga zur Porta San Gallo führte.
Während wir an den Palastmauern entlangschlichen, flüsterte Tayeb: »Sag mal, wo hättest du die Papyri versteckt, wenn dein auserwählter Hüter sich geweigert hätte, für ein häretisches Evangelium sein Leben zu riskieren?«
»In der Genisa der Synagoge am Mercato Vecchio.«
Er legte mir die Hand auf den Arm.
»Was ist?«
»War da nicht ein Geräusch?« Schritte - hinter uns!
Ich blickte die Gasse entlang zum Baptisterium. Meine Hand zuckte zum Griff des Dolches. Ein Dominikaner!
Im Licht des aufgehenden Mondes sah ich, wie er die Piazza del Duomo überquerte und am Borgo San Lorenzo vorbeiging. Hatte er unter seiner schwarzen Kapuze den Blick gewendet? Hatte er uns gesehen?
»Komm!«, flüsterte ich, packte Tayeb am Arm und zog ihn hinter mir her. »Ich will sehen, wohin er geht.«
Mein Freund folgte mir die wenigen Schritte zurück zum Domplatz. Ich spähte vorsichtig um die Ecke.
Da war er! Ohne Eile ging er durch die Via dei Banchi zur Piazza Santa Maria Novella. Was tat ein Dominikaner nach der Mitternachtsmesse außerhalb der Mauern seines Klosters? Misstrauisch beobachtete ich ihn.
Tayeb berührte mich an der Schulter. »Worauf wartest du?«
»Ich will sehen, ob er sich nach uns umdreht, weil er sich beobachtet fühlt. Ich will wissen, ob er zum Kloster geht. Oder ob er plötzlich nach rechts in die Via del Giglio abbiegt, weil er glaubt, dass er uns unauffällig folgen kann.«
»Was tut er?« Tayeb drängte sich hinter mir in die Schatten.
Argwöhnisch belauerte ich den Dominikaner. War es derselbe Mönch, den ich letzte Nacht über die Dächer von Florenz verfolgt hatte?
Ich atmete auf. »Er geht zur Piazza Santa Maria Novella und biegt nach rechts ab zur Klosterpforte.«
Tayeb legte mir die Hand auf die Schulter. »Komm jetzt! Der Hüter unseres Schatzes wartet!«
Wir huschten durch den vereisten Borgo bis zur Baustelle der Kirche San Lorenzo, die Pippo Brunelleschi für Cosimo errichtete. An der Piazza San Lorenzo lugte ich links um die Ecke - in Richtung Santa Maria Novella. Eine Katze huschte über die Straße und tauchte in die Schatten einer Seitengasse. Der Dominikaner war nirgendwo zu sehen.
Tayeb und ich überquerten die Piazza und verschwanden in der Via San Gallo, wo die Florentiner Ablasshändler ihre Stände hatten. Anschließend bogen wir nach rechts ab und eilten eine schmale Gasse entlang. Nach einem vorsichtigen Blick auf die hell erleuchtete Via Larga überquerten wir die breite Straße und tauchten in die Schatten zwischen den Bäumen der Piazza ein. Endlich erreichten wir das Tor der Basilica di San Marco.
Das Portal war unverschlossen.
Das Nachtoffizium war seit über einer Stunde beendet, und die Fratres waren in ihre Zellen zurückgekehrt. Doch die Kerzen auf dem Altar brannten noch.
An der rechten Seitenwand schlich ich nach vorn. Dann sah ich ihn: Wie ein Engel mit weit ausgebreiteten Flügeln lag ein Dominikaner vor dem Altar und betete.
Als er mich bemerkte, richtete er sich auf und blinzelte in meine Richtung. »Alessandra?«
»Ja«, flüsterte ich zurück und trat aus den Schatten.
Serafino erhob sich von den eisig kalten Steinplatten und umarmte mich. »Wo ist das Evangelium?«
Ich zog das Buch aus meinem Gewand und gab es ihm. Er schlug die erste Seite auf und hielt den schmalen Band in das Licht der Altarkerzen.
»De brevitate vitae - Von der Kürze des Lebens. Lucius Annaeus Seneca.« Verwirrt blätterte er durch die Seiten und las einen unterstrichenen Absatz: »›Zu leben muss man das ganze Leben lang lernen, und, worüber du dich vielleicht noch mehr
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