Der vergessene Strand
Erinnerung.
«Ich hab mich nicht mal vorgestellt.»
«Sie sind die deutsche Historikerin. Im Ort spricht man kaum von etwas anderem.»
Das erstaunte sie. «Wieso das denn?»
Er lachte, ein dunkles, warmes Lachen wie Karamell. Sie versteckte ihr Gesicht hinter der Teetasse und trank viel zu hastig. Ihre Zunge brannte.
«Weil die Leute sonst nichts zu erzählen haben. Weil es immer interessanter ist, was bei den anderen passiert. Nie das, was bei einem selbst los ist. Das möchten viele ja lieber für sich behalten.»
«Einem Apotheker kann man vermutlich nicht viel verheimlichen.»
«Nein, so ein bisschen sind wir da wie Beichtvater, Seelsorger und ferner Freund.» Er stand auf und räumte seine Teetasse weg. «Ich heiße übrigens Daniel. Sie können mich Dan nennen.»
«Amelie.» Sie nahm die Hand, die er ihr hinhielt. Er legte den Kopf leicht schief und musterte sie.
«Haben die Kekse geholfen?»
«Sie waren sehr lecker.» Sie lachte verlegen. «Das nächste Mal lass ich Ihnen welche übrig.»
«Die sind mit Ingwer. Ein altes Hausrezept meiner Mutter. Ingwer, meine ich.»
Irgendwie hatte sie das Gefühl, die Anspielung nicht zu verstehen. «Ja, sehr lecker», wiederholte sie. «Aber jetzt muss ich los.»
«Natürlich.» Er geleitete sie zur Tür. «Wenn Ihnen das nächste Mal flau wird, denken Sie dran: Ingwer. Wirkt Wunder.»
Wieder dieser Blick, den sie nicht deuten konnte. Forschend. Fragend. Doch dann lächelte er, und sie erwiderte sein Lächeln automatisch.
Ein netter Kerl, dachte sie auf dem Weg zurück zur Bibliothek. Etwas merkwürdig mit seinem Gerede über Ingwer, trotzdem sehr nett. Nach Cedric war er nun schon der Zweite, der sie mit diesen Keksen fütterte. War das eine lokale Spezialität oder wieder so eine englische Verrücktheit?
Erst eine halbe Stunde später, als sie mit Cedric bei Mathilda saß und er sie fragte, was denn ihr Besuch bei Mr. Bowden ergeben habe, fiel ihr wieder ein, warum sie überhaupt unterwegs gewesen war.
«Er war widerlich zu mir», sagte sie. Und nein, sie hatte keine Lust, das genauer auszuführen. Er hatte sie behandelt, als wäre sie eine Kreuzung aus den Zeugen Jehovas und einem Gerichtsvollzieher. So langsam hatte sie genug von den Grillen der Pembroker. Wer sie nicht mit offenen Armen empfing – wie der gutaussehende Apotheker, Mathilda und Cedric –, begegnete ihr mit offener Feindseligkeit.
«Man könnte meinen, ich hätte all ihre Erstgeborenen ermordet und noch ein paar Plagen mehr mitgebracht», bemerkte sie düster und stocherte lustlos in dem Eintopf mit Lamm und Bohnen herum. «Wieso ist das so?»
Cedric wiegte den Kopf. «So waren sie schon immer. Zugezogene haben es hier noch nie leicht gehabt. Ich musste auch ein Jahrzehnt hier leben, ehe sie mich halbwegs akzeptiert haben.»
Mathilda kam zu ihnen an den Tisch. «Nachtisch?», fragte sie und zwinkerte Cedric zu.
Er lehnte sich zurück und strich über sein kleines Bäuchlein. «Lieber nicht», antwortete er.
«Es gibt Karamellpudding.» Wieder zwinkerte sie. Amelie musste sich das Lachen verkneifen. Dieses Gespräch führten die beiden jeden Mittag.
«Ich nehm wohl einen», meinte sie. «Komm schon, Cedric. Einmal ist keinmal.»
«Meinst du wirklich, ich vertrag das?»
Beide Frauen versicherten ihm, dass man es ihm nicht ansehen würde, wenn er einmal Pudding aß. Wie jeden Mittag.
Dem Pudding folgte dann noch ein Kaffee, und es war schon halb drei, als sie wieder auf der Straße standen. Sie mussten sich beeilen, damit Cedric die Bibliothek rechtzeitig wieder öffnen konnte.
Amelie setzte sich an ihren Tisch hinten in der Bibliothek. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Ihre Augen schmerzten, und der Kopf fühlte sich unangenehm schwer an. Die bleierne Müdigkeit zerrte an ihr.
«Das kommt davon, wenn man so viel frisst», murmelte sie. Der Pudding wäre diesmal nicht nötig gewesen.
Es hatte keinen Zweck. Nach einer halben Stunde gab sie auf und packte ihre Sachen. Sie musste sich heute noch um eine Unterkunft kümmern.
Sie verabschiedete sich von Cedric und lief durch die Stadt zurück. Mr. Rowles schaute nur kurz auf, als sie das Fox & Hare betrat. Er schob ihr den Schlüssel und einen Notizzettel über den Tresen. Auf dem Zettel waren drei Hotels nebst Telefonnummern vermerkt. Dort sei noch was frei, sagte er.
Immerhin, dachte sie müde. Oben in ihrem Zimmer legte sie sich aufs Bett und schloss für einen Moment die Augen. Nur ein bisschen
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