Der vergessene Tempel
händigten ihre Waffen aus und kletterten im Gänsemarsch den Berghang hinunter. Ihnen blieb gar nichts anderes übrig, denn Roussakis’ Männer gingen vor und hinter ihnen her und bewachten sie scharf, während sie sich über den steilen, von Felsbrocken und Wurzeln übersäten Pfad abwärtsmühten. Inzwischen war die Sonne herausgekommen, und die Luft war schwül vom Dampf, der aus dem feuchten Laub aufstieg. Grant kam sich wie im Kongobecken vor, nicht wie im Norden von Griechenland.
Jackson, der hinter Grant ging, fragte: «Wie kommt es, dass Sie diesen Burschen kennen?»
«Wir haben im Krieg auf Kreta zusammengearbeitet. Er hat eine Partisanentruppe angeführt.»
«Und er kannte Marina?»
«Nicht näher. Er und ihr Bruder hatten …» Grant zögerte. «… eine Meinungsverschiedenheit.»
«So könnte man es ausdrücken», mischte sich Muir ein.
Nach einem schier endlosen Abstieg wurde der Hang schließlich flacher. Grant blieb stehen und schnupperte. Er roch wieder Feuer, aber diesmal nicht das klebrige, ölige Feuer, das der Bomber gebracht hatte. Es hatte das süßliche Aroma von Pinienharz, vermischt mit dem herzhaften Duft nach gebratenem Lamm. Mit einem Schlag wurde Grant bewusst, wie hungrig er war. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Jetzt dämmerte schon bald der Abend.
Plötzlich lichteten sich die Bäume. Hundert Meter weiter schien Sonnenlicht auf eine schmale Schneise im Wald: die Landebahn. Sie lag nicht oben auf dem Hügelkamm, sondern auf einer natürlichen Terrasse dicht unterhalb, sodass sie aus fast jedem Blickwinkel von Bäumen verdeckt wurde. Die Guerillas hatten ihr Lager im Wald aufgeschlagen: eine Handvoll Zelte, eine Feuerstelle und ein paar Munitionskisten. Zwei Frauen in Kampfanzügen brieten ein Lamm über dem Feuer. Reed, der sich in Oxford jede Woche einen Ausflug ins Kino gönnte, fühlte sich an eine Szene aus Robin Hood erinnert. Er rechnete halb damit, Errol Flynn durch den dämmrigen Wald pirschen zu sehen. Stattdessen sah er etwas noch Überraschenderes: Am Rand des Camps war aus zusammengebundenen Ästen eine einfache Hütte errichtet worden, mit offenen Seiten und einem laubgedeckten Dach. Unter diesem Dach waren Bänke aus grob behauenen Baumstämmen aufgereiht, und darauf saßen Kinder, die aufmerksam nach vorn blickten, wo eine grauhaarige Lehrerin etwas auf eine Tafel schrieb. Ein paar sahen sich neugierig nach den Fremden um, große Augen unter den verfilzten Haarschöpfen. Dann klopfte die Lehrerin mit dem Zeigestock an die Tafel, und die Schüler drehten sich gehorsam wieder nach vorn.
«Was machen die da?», fragte Jackson.
«Ihre Väter werden gesucht. Sie können nicht in die richtige Schule gehen, deshalb bringen ihre Familien sie hierher.»
Roussakis drehte sich um. «Ruhe.» Er gab seinen Männern ein Zeichen, woraufhin diese Grant und die anderen am Rand der Landebahn zusammentrieben. Das einzige Geräusch waren die Stimmen der Schüler, die ihrer Lehrerin im Chor einen Kindervers nachsprachen.
«Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, habe ich dir gesagt, du sollst mir nie wieder unter die Augen kommen.»
Grant machte einen Schritt auf den Ring der Männer zu. Er wurde unsanft mit einem Gewehr zurückgestoßen. «Himmel, Panos. Du weißt, dass ich auf eurer Seite stehe.»
«Ja? Früher vielleicht. Jetzt sehe ich, dass du mit den Faschisten gemeinsame Sache machst.»
Jackson konnte nicht länger an sich halten. «Faschisten? Wir sind die Guten. Falls es Ihnen entgangen ist – wir haben vier Jahre lang Leuten wie Ihnen geholfen, die Faschisten loszuwerden. Wollen Sie wissen, wer Hitlers wahre Erben sind? Dann fragen Sie doch mal Ihre Freunde in Moskau.»
«Heute Morgen war ein Mann aus Moskau hier. Ein Oberst vom MGB. Er hat nur ein Auge.» Roussakis mimte eine Augenklappe, indem er eine Hand über die rechte Gesichtshälfte hielt.
«Kurchosow.»
«Ah. Sie kennen ihn. Und er kennt Sie auch. Er sagt, er sucht nach einem Ameriki und drei Briten. Feinde des Sozialismus – sehr gefährlich.» Roussakis ging zu einer der Munitionskisten und hob eine schwere Pistole auf, deren Lauf dick wie ein Abflussrohr war. Keiner der anderen wagte etwas zu sagen. «Er hat mir Geld geboten, Gold und viele Waffen, wenn ich ihm helfe, Sie zu suchen.»
«Aber du bist nicht mitgegangen», sagte Grant.
Roussakis lud eine Signalpatrone in die Pistole. «Er hatte einen Mann dabei, einen Deutschen. Ich kenne diesen Mann von Kreta. Ein Faschist, sie
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