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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Teil abgebröckelt, und stellenweise wucherte Schimmel auf den Fresken, doch im Übrigen waren sie erhalten geblieben, wenn auch stark verblichen. Wie in Trance ging Grant auf eine Wand zu und hielt sein Feuerzeug davor. Selbst aus nächster Nähe waren die Bilder so blass, als betrachtete man sie aus unermesslicher Ferne oder durch Spinnweben hindurch. Manche Szenen glichen den auf Lemnos dargestellten: Männer bei der Getreideernte, Schafe in den Bergen, ein Stier im Joch neben einem Pappelhain. Es gab auch Abbildungen von Kriegsszenen: Streitwagen, die in die Schlacht fuhren; eine von Mauern umgebene Stadt; eine Reihe Schiffe, die auf einen Strand gezogen waren; Männer mit Schilden, so groß wie sie selbst, die ihre Feinde mit Speeren durchbohrten.
    Als Grant eine der Figuren aus der Nähe betrachten wollte, stieß er mit dem Fuß an etwas. Er ging in die Hocke und erkannte im Licht des Feuerzeugs, dass überall am Fuß der Mauer Schutt auf dem Boden lag. Es musste sich um heruntergefallene Putz- oder Gesteinsbrocken handeln … doch noch während Grant das dachte, kamen ihm Zweifel. Er hob ein Stück auf und befühlte es. Durch die Schmutzkruste hindurch spürte er die Härte und Kälte von Metall.
    Er klappte das Feuerzeug zu, klemmte es zwischen die Zähne und tastete nach seinem Hemdsaum, der noch feucht war vom Schwimmen im See. Im Dunkeln rieb er damit kräftig über den Gegenstand in seiner Hand. Wofür hältst du dich?, fragte er sich selbst. Für Aladin? Er nahm das Feuerzeug wieder aus dem Mund und zündete es an. Kein Geist war erschienen – aber von dem schwarzen Klumpen in seiner Hand starrte ihm ein lidloses goldenes Auge entgegen.
    Grant hätte seinen Fund vor Erstaunen beinahe fallen gelassen. «Hier, hier drüben», rief er. Während die Übrigen herbeieilten, polierte er den Gegenstand weiter, bis auf großen Teilen der Oberfläche das Gold hindurchschimmerte. Es war ein Becher mit einem hohen, gerundeten Henkel wie bei einer Teetasse; in das Metall waren Bilder von Hirschen und Löwen eingearbeitet. Grant reichte den Becher dem Professor. «Wie viel ist der wert?»
    Reed nahm ihn mit zitternden Händen entgegen, wie ein Vater, der zum ersten Mal sein Kind im Arm hielt. «Das liegt jenseits meiner Vorstellung.»
    Grant nahm Jackson die Taschenlampe aus der Hand und ließ den Lichtstrahl über den Wall aufgehäufter Schätze gleiten, der lückenlos rund um den gesamten Raum verlief. Jetzt, da er wusste, was er da vor sich sah, konnte er in dem Durcheinander einzelne Formen ausmachen: Teller und Schalen, Becher, Kronen, Skulpturen und Schwerter. Er versuchte sich auszumalen, wie all das aussehen würde, wenn es gereinigt und poliert wäre – ein gewaltiger Hort heidnischen Goldes. «Alles in allem ist es bestimmt eine halbe Tonne.»
    «Vergessen Sie das.» Jackson nahm Grant die Lampe wieder ab und richtete sie auf die Wände. Seine Bewegungen waren ruckartig und verkrampft. «Wir haben keine Zeit. Wo ist der gottverdammte Schild?»
    Sie suchten die Kammer ab. Anders als in dem Heiligtum auf Lemnos gab es hier keinen Altar, keinen Ring aus Gasflammen, kein Loch im Boden, durch das man beim Initiationsritus kriechen musste. Die rundum verlaufende Wand war glatt und lückenlos. Bis auf …
    «Dort.» An der gegenüberliegenden Seite des Raumes durchbrach eine Türnische die gekrümmte Wand. Sie eilten darauf zu. Aus den Seiten des Rahmens ragten zerfressene Metallstifte, doch die Tür, die sie einmal gehalten hatten, war längst zerfallen. Jackson leuchtete mit der Taschenlampe durch die Öffnung. Dahinter sah Grant eine kleinere Kammer mit kunstvollen Reliefs an den Wänden. Im nächsten Moment versperrte Jackson ihm die Sicht und trat durch den Türrahmen.
    «Vorsicht.» Reed packte Jackson am Ärmel und zog ihn zurück. Der Professor deutete auf den Boden: Direkt hinter der Tür, unmittelbar vor Jacksons Füßen, klaffte ein Graben von fast einem Meter Tiefe im Boden. Jackson richtete die Taschenlampe hinein – und fuhr zurück, wobei er erschrocken nach Luft schnappte. Am Grund der Grube ragten aus dem Staub und Schmutz weiße Knochen hervor.
    «Das sind doch nicht etwa … Menschenknochen?» Selbst Jacksons sonst so bombenfeste Unerschütterlichkeit schien angeknackst.
    Reed nahm die Lampe und leuchtete in die Grube. «Ich glaube, es ist ein Stier.» Der Lichtstrahl blieb an einem mattbraunen Horn hängen, das in einer Ecke aufragte. «Er wurde sicher geopfert, als der Tempel geweiht

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