Der vergessene Templer
Höhen führte, begleitet von den Hängen der Weinberge, an denen das flüssige Gold dieser Gegend allmählich seiner Lese entgegenreifte.
Sie genoss die Fahrt. Der Abendwind war lau, und der Monat Juni brachte zahlreiche Sommerdüfte mit, die zusammen mit dem Wind gegen ihr Gesicht wischten.
Sie fand es einfach herrlich, und die Vorfreude steckte tief in ihrem Innern. Der Rhein war einfach ein prächtiges Stück Deutschland und wurde nicht grundlos von so zahlreichen Touristen aus aller Welt besucht.
Sie ließ sich Zeit, denn sie wollte etwas von der Fahrt haben. Ab und zu stoppte sie an etwas exponierten Stellen, um einen Blick auf den dunklen Fluss zu werfen, durch dessen Wasser sich die erleuchteten Schiffe pflügten und weiße Schaumbärte an ihrem Bug vor sich herschoben. Die Burgen an und auf den Hängen, die kleinen Weinorte am Ufer, jetzt nur Lichtinseln, und sogar das Licht der auf der Uferstraße fahrenden Autos störte sie nicht. Es gehörte einfach zu diesem Panorama dazu, und so hatte sie nicht selten das Gefühl, als wäre für sie extra eine große Bühne eröffnet worden, auf der sie eine der Hauptrollen spielte. In Minuten wie diesen bestand das Leben für sie aus lauter Lust. Man musste so etwas einfach nur genießen, denn der graue Alltag war hart genug.
Dagmar Hansen hatte es geschafft, den Beruf aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen. Sie gab sich einfach nur der Fahrerei hin. Je näher sie ihrem Ziel kam, umso größer wurde die Vorfreude.
Beidseitig der Fahrbahn war die Gegend dicht bewachsen. So kam es ihr manchmal vor, von einem endlosen Tunnel verschluckt zu werden, der allerdings nie gerade verlief, sondern immer wieder Schlangenlinien bot, die dazu reizten, Kurven zu schneiden, was Dagmar Hansen nicht tat. Sie hatte Zeit, sie wollte genießen, auch den Blick in den »Tunnel«, der nie dunkel war, weil das Licht der Scheinwerfer ihm eine fahle Helligkeit gab, die schon manchmal gespenstisch wirkte.
Es war mehr ein Gleiten als ein Fahren. Das Abrollgeräusch der Reifen vermischte sich mit dem frischen Sommerduft der Natur, was noch mehr zu ihrer Urlaubsstimmung beitrug.
Der Ort Lahnstein lag bereits in ihrer Sichtweite, wenn sie den Blick in die Tiefe gleiten ließ. Dort hatten sich die zahlreichen Lichter versammelt, die nicht nur weiß und hell grüßten, sondern an manchen Stellen auch farbig.
Sie überlegte, ob die beiden Männer schon eingetroffen waren. Wenn nicht, würde sie sich in die Gastwirtschaft setzen und zuerst einen Kaffee trinken, dann eine Kleinigkeit essen und sich anschließend das eine oder andere Gläschen Wein gönnen.
Die Vorfreude darauf ließ auf ihrem Gesicht ein breites Lächeln entstehen. Das war alles Entspannung pur, und sie fühlte auch nicht den leichten Druck hinter der Stirn, wo ihr »drittes« Auge verborgen lag, das sie als Psychonautin auswies.
Ein Verkehrsschild wies darauf hin, dass die Straße bald nach unten führte. Dann glitt sie in Serpentinen den Hang hinab, um letztendlich nahe der Stadt aus-zulaufen. Wer wollte, der konnte noch auf der Höhenseite weiterfahren. Das brauchte sie nicht, so sehr ihr dieses kurze Stück auch Spaß gemacht hatte.
Die Linkskurve nahm sie locker und rollte dann dem Fluss entgegen. Sie war jetzt froh, ihr Ziel bald erreichen zu können, denn es meldeten sich der Hunger und der Durst.
Dagmar Hansen ahnte nichts Böses, und ihre Gedanken beschäftigten sich auch nicht mit beruflichen Dingen, als plötzlich etwas passierte, das all ihre Vorfreude ad absurdum führte. Es begann nicht mit einem Paukenschlag oder mit einem Angriff auf sie, sondern mit einer Szene, die sie nicht für möglich gehalten hätte.
Plötzlich, hinter ihr lag gerade eine recht enge Kurve, erfasste das Licht der Scheinwerfer zwei Menschen. Es waren eine Frau und ein Mann. Sie hielten sich an den Händen gefasst und rannten, als wäre der Leibhaftige persönlich hinter ihnen her...
***
Der Lauf und die Flucht hatten Sharon und Sven angestrengt, aber der junge Mann war nicht so ausgepumpt, als dass er seiner Freundin nicht noch Mut gemacht hätte.
»Wir schaffen es!«, keuchte er zwischendurch immer wieder. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Der verfluchte Ritter wird nicht schneller sein als wir.«
Sie gab keine Antwort. Sharon war zu ausgepumpt. Automatisch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Dass es bergab ging, merkte sie kaum, sie reagierte wie ein Automat. Schritt für Schritt, wobei ihre Beine sich selbstständig zu
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