Der verkaufte Patient
Leben, Vitalität. »Übrigens«, sagte Tina, »Sie haben recht, man darf sich nicht alles gefallen lassen. Ja, Sie haben so recht, man darf sich nicht unterkriegen lassen … Und noch was …« Tina druckste herum: »Glauben Sie eigentlich, dass es einen Himmel gibt?«
Was sollte denn diese Frage nun? Tina kam mir mit ihrer Antwort zuvor: »Nun – eigentlich könnte ich Ihnen diese Frage gar nicht mehr stellen, wenn das alles so gelaufen wäre …« Ich verstand, fiel vom »Sie« ins »Du«: »Du wolltest Schluss machen?« – »Ja, ich wollte mich verabschieden, und zwar am Freitagabend. Ich hatte mir das alles so schön ausgedacht. Wenn mich keiner haben will, kann ich gehen. Tja, und dann haben Sie zu mir gesagt: ›Ruf mich einfach an. Sag mir, wie es dir geht. Ich warte auf deinen Anruf.‹ Und weil es mir nach diesem Gespräch so gut ging, wollte ich einfach noch mal mit Ihnen telefonieren.« Mir lief es eiskalt über den Rücken.
Ich fragte: »Wie alt bist du?« Sie sagte: »23!«
Eine unglaubliche Wut packte mich, zugleich ein starkes Gefühl von Glück. Ich hatte mit einer jungen Frau gesprochen,die 48 Stunden vorher bereit war, ihr Leben wegzuwerfen. Bis Montagmorgen telefonierte ich mit Tina im Zweistundenrhythmus. Einmal rief sie mich, einmal rief ich sie an. Am Montagmorgen telefonierte ich mit ihrem Hausarzt. Er reagierte sofort. Er ließ alles stehen und liegen, setzte sich ins Auto, fuhr zu Tina und brachte sie in ebendas Fachkrankenhaus, in dem sie eigentlich seit zwei Wochen mit einer Einweisung von ihm sein sollte. Tina wurde auch ohne Zusage aufgenommen – als absoluter Notfall. Tina lebt.
FALL 2: Do it yourself in der Pflege
Der 84-jährige Patient mit einem metastasierenden Prostatakarzinom lag gelähmt in seinem Bett und wurde täglich von seiner Hausärztin besucht. Die Lähmung war die Folge eines Metastaseneinbruchs ins Steißbein, bei dem Blase, Mastdarm und Beine gelähmt wurden. Von August bis Januar befand sich der Patient in stationärer Behandlung, bekam Strahlentherapie, Chemo, Reha und wurde zweimal von der Reha in eine Akutklinik gebracht. Der Patient litt außerdem an Parkinson, und sein linker Arm war gelähmt. Bis August hatte er Pflegestufe 2.
Im Dezember 2007 fragte die Ärztin bei der Kasse um Genehmigung für eine Dekubitus-Matratze an. Diese wurde abgelehnt. Es kam, wie es kommen musste: Gut einen Monat später war der alte Mann wundgelegen. Die Kasse schickte nun ein Schreiben, die Wundpflege werde für 14 Tage übernommen. Der Patient konnte weder allein trinken noch essen. Seine 82-jährige herz- und lungenkranke Ehefrau schaffte es nicht mehr, ihm regelmäßig die notwendige Menge Flüssigkeit zu verabreichen. Die Folge war eine hartnäckige Verstopfung. Antrag auf Pflegehilfe. Abgelehnt. Die Kasse befand: Klysma kann die Ehefrau legen! Begründung: Die 79-jährige Großmutter einer Kassensachbearbeiterin könne dies bei ihremGroßvater auch. Die Ärztin verordnete zweimal die Woche eine subkutane Infusion, die nur der Pflegedienst verabreichen darf – auch die wurde abgelehnt! Sämtliche Eingaben der Hausärztin bei der Kasse erwiesen sich als wirkungslos. Ebenso die Einsprüche des Pflegedienstes. Die Ehefrau müsse ran. Folge: Die alte Dame brach infolge der Aufregung gesundheitlich zusammen und musste wegen eines Lungenödems stationär behandelt werden.
FALL 3: Medikamentenhopping für Laborratten
Herr S. hat noch einmal Glück gehabt! Der 68-jährige Rentner ist wieder wohlauf. Sein Blutdruck hat sich normalisiert, Taubheit, Kopfschmerzen und Schüttelfrost sind verschwunden. 200/100 war sein Blutdruck gewesen, als er vor einem Monat per Notarzt ins Krankenhaus eingeliefert wurde. »Ich stand kurz vor einem Schlaganfall«, sagt er heute. Aufgetaucht waren die Symptome, nachdem er von seinem Urologen ein neues Medikament verschrieben bekommen und eingenommen hatte – ein sogenanntes »günstigeres« Präparat aus der gleichen Wirkstoffgruppe. Zu dieser Verschreibungspraxis werden Ärzte gesetzlich angehalten. Als in den Medien über diese Umsetzung der Regelung berichtet wurde, meldete sich auch Herr S. zu Wort.
Der Arzt muss das jeweils günstigere Präparat aus der gleichen Wirkstoffgruppe verordnen, will er einer Regressanordnung entgehen. Eine an sich sinnvolle Regelung gegen die Preistreiberei der Pharmakonzerne. Nur – nicht immer ist Medikament gleich Medikament. Im vorliegenden Fall vertrug sich das neue Medikament aufgrund anderer
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