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Der verkaufte Patient

Titel: Der verkaufte Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Hartwig
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nüchtern verschwinden – die Menschlichkeit. Denn genauso wie diese Tante-Emma-Läden verschwunden sind, so wird unser Hausarzt verschwinden. Wie die Tante-Emma-Läden in die Pleite getrieben wurden, so wird mit Hilfe der Politik die Landarztpraxis vor Ort zur Aufgabe gezwungen. Sie erinnern sich noch: Früher gab es überall die Metzger, die Bäcker, die kleinen Drogerien, den Milchladen um die Ecke, das Gemüse- und Obstgeschäft. Viele kleine Leute hatten ihr Auskommen. Und dann kamen die Jahre, da schloss einer nach dem anderen von ihnen. ALDI, LIDL, NORMA, PENNY und wie sie alle heißen, traten an ihre Stelle. Damit wurde vielen einfachen Menschen, die eine anständige Arbeit machten, die Existenzgrundlage entzogen.
    Ein Patient aus einer ländlichen Region schrieb mir: »Bei uns in L. brummte es früher. Gaststätten, Schulen, Läden, Geschäfte, Arztpraxen, Kirchengemeinden, Vereine gab es. Man sah sich auf der Straße, blieb beieinander stehen, sprach miteinander, vereinbarte sich, half sich. Heute gibt es immer mehr tote Straßen; am Abend flackert es blau durch die Fensterscheiben: passiv leben durch das TV-Gerät. Hindämmern, Warten auf Godot. Hier leben Rentner, Rentnerinnen, die schlecht zu Fuß sind. Nur noch zweimal am Tag ist ein öffentliches Verkehrsmittel in Richtung S. (Kreisstadt) unterwegs. Im Wartezimmer des Arztes finden sich die alten Menschen, die kleinen Leute, sprechen ein wenig über das Persönliche. Aber er macht zu – denn er findet keinen Nachfolger, der sich hier niederlässt …« Wer denkt an diese Menschen? Ihre Art zu leben passt nicht mehr in diese globalisierte, kalt werdende Welt. Die große Maschine der Verödung geht über uns hinweg. Und die Politik versagt in einem horrenden Ausmaß. Ich möchte den schleichenden Prozess der Dehumanisierung an einer Reihe von Fällen darlegen.
FALL 1: Deshalb lebe ich noch
     
    Der Morgen nach einer langen Nacht. Statt einer Tasse brühe ich mir gleich eine ganze Kanne Tee auf. Mein PC arbeitet bereits auf Hochtouren. Wieder sind 134 E-Mails in ein paar Stunden aufgelaufen. Ich nehme mir die Teetasse und versuche, anhand der Eingänge die Dringlichkeit der E-Mails zu erahnen. Aus welchem Grund bleibe ich gerade bei der Betreffzeile »Hallo hier bin ich« hängen? Ich weiß es nicht.
    »Ich heiße Tina und bin krank. Wiege 41 Kilo und bin arbeitsunfähig. Ich leide an Bulimie und habe eine Überweisung in ein Fachkrankenhaus. Nur, meine Krankenkasse sagt nein. Das heißt: Ich bin der letzte Dreck, und für mich gibt man kein Geld mehr aus. Ich bin nichts wert«! Der Satz macht mich wach – er pocht von innen gegen meine Schläfen. »Ich bin nichts wert!« Fast schon mechanisch klicke ich auf
Antworte
n und schreibe zurück: »Liebe Tina, niemand ist umsonst auf dieser Welt, hier meine Telefonnummer (…) Wir sollten einfach miteinander reden. Herzliche Grüße, RH.« Klick – ab die Post!
    Ich lehne mich zurück, nippe an der Teetasse. Was für ein Schicksal mochte sich hinter diesen dürren Zeilen verbergen? Wie sah diese Tina aus? 41 Kilo – kaum vorstellbar für eine erwachsene Frau! Vielleicht konnte ich ein kleines Lichtzeichen in ihre Welt senden. Ich sitze vor einem anonymen PC, ausgeliefert an eine Technik, mit der ich immer wieder auf Kriegsfuß stehe. Aber er ist ein Fenster in die Welt. Jemand schaut herein. Ich schaue hinaus.
    Es ist Freitag in derselben Woche. Trübes, nasskaltes Wetter, eben Oktober. Fast schon monoton nehme ich den Hörer ab – ich weiß nicht zum wievielten Mal an diesem Tag: »Hartwig.« Am anderen Ende … nichts. »Hallo«, rufe ich. Keine Reaktion. Na ja – wieder so ein anonymer Anruf, denke ich. Seit Jahren sind mir massive akustische Angriffe eine vertraute Sache. Schon will ich den Hörer aufknallen, da hältmich etwas zurück. Jemand atmet auf der anderen Seite. Ein Perverser? Ich sage nichts, halte den Hörer weiter am Ohr. Auf einmal ist sie da, eine Stimme zerbrechlich wie dünnes Glas: »Ich bin’s … Tina.« Wieder dieses Atmen. Weiter nichts. Ich fange an zu reden. Das kann nur diese Tina sein, die Frau, die mir die E-Mail geschrieben hatte. Ich rede und rede. Mir kommt die Befürchtung, ich könnte dieses Stimmchen mit meiner Dynamik erschrecken …
    Es kommt anders. Plötzlich verliert Tina ihre Scheu. Es sprudelt aus ihr heraus. Sie erzählt mir ihr Leben. Kein gutes Leben. Doch es gibt Stellen, an denen ich einhaken kann. Hier und da kann ich ihr Mut machen. Das Stimmchen

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