Der verletzte Mensch (German Edition)
fortzusetzen. Allein der Gedanke an ihr Amt ließ diese Menschen, die am Höhepunkt ihres Wissens und Könnens standen, in ein tiefes Loch fallen. Sie klagten über Symptome wie Schlaflosigkeit, Angstzustände und Arbeitsunfähigkeit, die in erschreckender Weise mit der sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung übereinstimmen, einem Phänomen, das man sonst vor allem von Kriegsveteranen oder Opfern sexuellen Missbrauchs kannte. Psychotherapeuten fanden für Menschen, die aufgrund schwerer beruflicher Kränkungen in diesen Zustand verfallen, den Begriff der „chronischen Verbitterungsstörung“. [18]
Gehen die Betroffenen dann, aus welchen Gründen auch immer, tatsächlich vorzeitig in den Ruhestand, können sie diesen nicht genießen, sondern denken Tag und Nacht an die Kränkung und werden von Rachegefühlen innerlich aufgefressen.
Kränkungen, die nicht der Genfer Kriegsrechtskonvention unterliegen und die trotzdem zu Verletzungen führen können
„Alle Kränkungen wollen gelernt sein. Je freundlicher, desto tiefer trifft’s.“
Martin Walser
Jetzt mal ganz unter uns Männern: Wann haben Sie sich in Ihrem Leben tatsächlich einmal über eine Krawatte gefreut, die Ihnen eine Frau geschenkt hat? War es eine attraktive Frau, die Ihnen wichtig war, dann löste die von ihr liebevoll überreichte Krawatte sofort die tiefe Unsicherheit aus, dass sie wohl alle Krawatten, die man bisher beim Rendezvous getragen hatte, offensichtlich als derart peinlich empfunden hatte, um den Geburtstag in einer möglichst wenig verletzenden Form zu nutzen, um endlich sein modisches Verständnis ein bisschen aufzupäppeln. Pflichtschuldig tragen wir diese Krawatte dann auch immer, wenn wir uns mit dieser Frau wieder treffen. Jedes Mal, wenn wir sie aus dem Schrank nehmen, zweifeln wir an den anderen, die dort hängen. Bekommen wir die Krawatte von unseren Frauen geschenkt, dann nehmen wir sie mit der gleichen abgestumpften Gleichgültigkeit, mit der wir unseren Ehealltag ertragen. Das Schlimmste sind zweifellos die Krawatten, die wir von der eigenen Mutter zum Geburtstag geschenkt bekommen. Unmöglich scheint in diesem Augenblick der Gedanke, dass Brad Pitt jemals von Angelina Jolie eine Krawatte zum Geburtstag erhielt. Jenseits unseres Vorstellungsvermögens liegt die Möglichkeit, dass George Clooney Krawatten von seiner Mutter bekam.
Auch das Erzählen über die „kleinen Schwächen“ des Ehepartners beim Abendessen mit Freunden erweist sich oft als Minenfeld. Plötzlich rastet der andere aus, die Stimmung ist im Keller. Für die Gäste wirken derartige Ausbrüche als Überreaktion und mutige Geister versuchen dann das Gespräch auf ein harmloses anderes Thema zu lenken, um den Abend noch zu retten. Im besten Fall wird das Scharmützel erst dann ausgetragen, wenn der letzte Gast gegangen ist. „Du hast dich wieder einmal unmöglich benommen …“ gilt dabei als geeigneter Eröffnungszug, der gute Chancen auf einen stundenlangen Austausch von wechselseitigen Kränkungen bietet.
Als besonders gelungenes Beispiel des Austausches von Boshaftigkeiten wird folgende Anekdote erzählt: Lady Astor sagte einmal zu Winston Churchill: „Wenn Sie mein Mann wären, würde ich Ihren Kaffee vergiften!“ – „Wenn Sie meine Frau wären“, antwortete Churchill, „würde ich ihn trinken.“
Das Waffenarsenal scheinbar harmloser kleiner Kränkungen unterliegt keiner Kriegskonvention. Daher hier ein kurzer Auszug, der natürlich beliebig erweitert werden kann:
§ 1 Das Schenken von Krawatten, billiger Parfums und anderer liebloser Geschenke.
§ 2 „Gar nichts“ auf die Frage des Partners „Ist irgendetwas mit Dir?“ antworten.
§ 3 Einfach nicht zurückzurufen, obwohl man es mehrmals versprochen hat.
§ 4 Das Absagen eines lange vereinbarten Abendessens zu zweit per SMS, nachdem man den anderen 40 Minuten lang im Restaurant Mineralwasser nippen und die Speisekarte auswendig lernen ließ. (Das passiert statistisch gesehen eher Männern.)
§ 5 Den Geburtstag eines Menschen, der sich einbildet, dass er uns etwas bedeutet, mit Absicht zu vergessen, um ihm dann mit einigen Tagen Verspätung eine hässliche Geburtstagskarte mit einem vorgefertigten Spruch zu schicken.
§ 6 Die Empfehlung an gute Freunde, ihr Geld in Optionen auf zukünftige Erbschaften nigerianischer Prinzen zu investieren. Im Jahr 2008 wurde dieser Paragraf auch auf amerikanische Automobilaktien, isländische Staatsanleihen, deutsche
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