Der verletzte Mensch (German Edition)
Zeitbomben, die mit einem Verzögerungsmechanismus explodieren.
Der Tod des Metzgers
Bereits der Vater des 17-jährigen Metzgerlehrlings Franz B. war Metzger. Er förderte seinen Sohn sehr, nahm ihn sehr früh ins Schlachthaus mit und ließ ihn schon als Kind kleine Tiere töten und ausnehmen. Der Vater wurde für den Jungen zum Vorbild, dem er nacheiferte. Vom Vater wurde er immer unterstützt und für seine Bemühungen gelobt. Umso größer ist der Schock, als Franz B. in die Lehre zu einem alten Metzgermeister kommt, der ein Tyrann der alten Schule ist und ihm nie auch nur das kleinste Lob schenkt. Er leidet unter dieser Kränkung und verlässt dann im Streit die Lehrstelle. Ein Jahr später stellt er seinen ehemaligen Lehrherrn zur Rede und schießt ihm mit einer Pistole ins linke Auge. Im Gespräch mit dem Gerichtsgutachter gibt er an, dass die Kränkung durch den Alten ihm ein Jahr nicht aus dem Kopf ging und er Tag und Nacht daran denken musste. Der 17Jährige, der bei allen als netter Junge galt, bekannte sich zu der Tat, zu der ihn der zwanghafte Hass getrieben hatte, und er gestand, dass es ihm danach besser ging.
Der Lehrherr stand natürlich auch für den Vater. Gerade weil sein wirklicher Vater so liebevoll war, konnte er mit der Eiseskälte und Ablehnung durch den alten Metzgermeister nicht umgehen. Das Auge hat hohe Symbolkraft, es ist das Gewissen, das auf einen blickt. Sein Vater hatte nur den verhängnisvollen Fehler gemacht, dass er ihn zu früh ins Schlachthaus mitnahm und daher die natürliche Tötungsschwelle seines Sohns gefährlich nach unten verschob.
„Hurra, der Kinderschänder ist da!“
Mit diesen Worten überraschte Josef B. seinen Schwager und lachte selbst kurz über seinen gelungenen Scherz. Dann schoss er das erste Mal. Danach tötete er der Reihe nach seine Schwester und zwei weitere Familienmitglieder. Was sich wie eine Szene aus einem Horrorfilm von Stephen King liest, spielte sich in der Nacht auf den 2. Juli 2008 in einem kleinen Ort in Niederösterreich ab. Nach seiner Verhaftung erzählte der Vierfachmörder, wie er das Blutbad ein Jahr lang minutiös geplant hatte. Sein Hauptmotiv war, dass er sich sein Leben lang von seiner ganzen Familie ausgenutzt und gedemütigt fühlte, der Auslöser für die Tat schließlich, dass er sich von seinen Verwandten im Dorf als Kinderschänder verleumdet glaubte. Auch beim Prozess bereute Josef B. nichts und sagte nach seiner Verurteilung: „Seit meiner Tat schlafe ich viel besser.“
Derartige Familientragödien nehmen deutlich zu. Aber im Gegensatz zu früher, wo die Täter meist tatsächlich an schweren psychischen Erkrankungen litten, die nicht rechtzeitig erkannt und behandelt wurden, sind es heute vor allem Rosenkriege, Sorgerechtsstreitigkeiten, Demütigungen am Arbeitsplatz und Nachbarschaftskonflikte, die dann zum Amoklauf führen. Verlassene Väter empfinden die Kränkung so tief, dass sie für sich beschließen: Wenn sie schon selbst die Kinder nicht bekommen können, dann solle sie niemand anderer haben, und rotten alle aus, ehe sie am Schluss sich selbst richten. Natürlich sind das einige wenige Fälle, die es im besten Fall auf die Titelseite einer Zeitung schaffen.
Wir sind heute alle viel anfälliger für narzisstische Kränkungen. Wir mögen uns, wir lieben uns selbst, wir betreiben großen Aufwand, um uns möglichst vorteilhaft darzustellen. Wenn aber jemand unser mühsam aufgerichtetes Selbstbewusstsein massiv kränkt, ziehen wir uns entweder tief getroffen zurück oder schlagen heftig zu.
Die „Verbitterungsstörung“ – wie gekränkte Finanzbeamte zu Kriegsversehrten werden
Finanzbeamte sind ein besonderer Menschenschlag, sonst ergreift man nicht diesen Beruf, der keine besondere Beliebtheit erwarten lässt. Ihr Lebensplan scheint recht klar: Sie machen alles sehr korrekt, vermeiden Fehler, halten sich an alle Vorschriften, um dann irgendwann als Lohn für diese Mühen Vorsteher ihres Finanzamtes zu werden. In einem Finanzamt in Deutschland waren acht Bewerber um die Leiterposition in die letzte Runde gelangt. Einer bekam die Position. Von den unterlegenen sieben Bewerbern suchten sechs einen Gutachter auf, der ihnen die Berufsunfähigkeit attestieren sollte. Es war nicht mangelnder Arbeitswille, körperliche oder geistige Krankheit oder gar Faulheit, die sie zum Gutachter trieb. Vielmehr war es die aus ihrer Sicht tief empfundene Kränkung, die es ihnen unmöglich erscheinen ließ, ihren Dienst
Weitere Kostenlose Bücher