Der verletzte Mensch (German Edition)
Sachbearbeiterin. Da diese nicht da war, stach er mit einem Messer auf ihre anwesende Kollegin ein. Er hatte sein Opfer nie zuvor gesehen, die Beamtin war für ihn nicht zuständig. Er wollte „das Finanzamt treffen“, erklärte er, nachdem er sich nach der Tat widerstandslos hatte festnehmen lassen.
In Extremfällen wird Rache sogar zur Lebensaufgabe für den Gekränkten. Alles Denken konzentriert sich auf das erlittene Unrecht, das in endlosen Wiederholungen im Kopf immer wieder durchlitten wird. Unvorstellbar wird der Gedanke, dass der Täter ohne Strafe davonkommen könnte. Betroffene Menschen merken gar nicht, wie sehr sie sich immer mehr selbst vergiften. Groll macht die Seele hart. Es gibt Menschen, die es nicht einmal über sich bringen, die letzte Chance zur Versöhnung zu nutzen. Sie scheiden schließlich unversöhnt mit sich und der Welt aus dem Leben.
Unversöhnlich bis in den Tod – danach geht nichts mehr
Robert A. hatte seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr mit seiner Familie. Mit 65 Jahren erhält er die Diagnose einer unheilbaren Krankheit. Er ersucht die Ärztin, Kontakt mit seiner geschiedenen Frau, dem Sohn und der Tochter aufzunehmen. Die Ärztin erreicht die Tochter und klärt sie über die gesundheitliche Situation ihres Vaters auf. Sie teilt der Tochter auch den Wunsch des Vaters mit, dass dieser sich sehr freuen würde, sie noch einmal zu sehen. Die Tochter antwortet der Ärztin, dass der Vater sie schwer verletzt habe und es seitdem keinen Kontakt mehr gegeben habe. Sie werde sich den Wunsch des Vaters überlegen. In den drei Wochen, die der Mann noch zu leben hatte, kamen weder die Tochter, noch der Sohn oder die ehemalige Gattin. Der Vater zur Ärztin: „Die brauchen sich nicht zu fürchten, ich tue ihnen nichts. Lassen wir die Vergangenheit ruhen.“ Die Familie kommt trotzdem nicht. Den Mut, die Tochter selbst anzurufen, hat Robert A. nicht. Er stirbt unversöhnt. Seine Familie lebt unversöhnt weiter. Die Chance zur Vergebung hat ein natürliches Ablaufdatum – den Tod.
Wenn Menschen zu Hühnern werden
Wenn wir von der Kränkung so massiv getroffen sind, dass uns nicht einmal Angriff, Flucht oder Totstellen möglich erscheint, dann werden wir zu Hühnern. Lässt man über Hühnern auf einem Hühnerhof eine Raubtierattrappe kreisen, löst das verständlicherweise großen Stress aus und sie laufen wie aufgescheucht herum. Doch irgendwann beginnen sie wie wild zu picken und beruhigen sich. Das Gehirn hat als Bewältigungsstrategie auf dieses zwanghafte Muster geschaltet und das Verhalten der Hühner läuft wie von einem Autopiloten gesteuert. Dass Picken eine völlig sinnlose Reaktion auf die Bedrohung durch einen Raubvogel ist, spielt dabei keine Rolle. Nur wir als außenstehende Beobachter erkennen das sofort. Sind wir allerdings selbst extremer Bedrohung ausgesetzt, entwickeln wir häufig ähnlich sinnlose Aktivitäten, um die Ausweglosigkeit der Situation zu bewältigen. Im Extremfall kann das dann auch das Verfolgen von Wahnideen sein. Der Glaube an die Wunderwaffe, die alle Probleme lösen wird, ist mit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs keineswegs gestorben. Nur zu oft habe ich als Unternehmensberater schon Organisationen in Krisensituationen erlebt, deren Führungsspitze sich in immer unrealistischeren Strategien verlor, statt die offensichtlichen Bedrohungen zu erkennen. Und wie viele Freunde haben wir schon verzweifelt versucht, von völlig verrückten Handlungen abzuhalten, die sie massiv selbst beschädigen würden. Nur wenn wir selbst stark unter Druck geraten, merken wir häufig nicht, dass wir uns genauso wie die Hühner verhalten, die mit großem Einsatz vor sich hin picken.
Warum wir so schwer verzeihen können
Wenn sich der geliebte Partner von uns abwendet oder sich gar einem anderen zuwendet, dann ist das, als ob ein Stück aus unserem Herzen herausgeschnitten würde. Die Gestalt des von uns geliebten Menschen wird zerstört. Wir versuchen logisch zu verstehen, was uns der andere angetan hat – wir können es aber nicht. Daher fällt uns das Verzeihen besonders schwer, wenn einer unserer Kernwerte verletzt wurde. Jemanden, dem Treue der wichtigste Wert in einer Beziehung ist, schmerzt der Betrug durch den Partner besonders. Die Kränkung und Verletzung der Selbstachtung wird dann zurückgezahlt, indem der Betrogene seinen Partner ebenfalls betrügt oder ihn bei der Steuer anzeigt, um ihn in seiner beruflichen Existenz zu vernichten. Eine häufige
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