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Der verletzte Mensch (German Edition)

Der verletzte Mensch (German Edition)

Titel: Der verletzte Mensch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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dieses Mädchen Felix als erstes Kind den Schlauch wieder hineingesteckt. Das war eines der ersten Erlebnisse, wo ich mir gedacht habe: ‚So, jetzt haben wir es geschafft.‘“
    Sonja Schärf lockert ihren Unterricht mit vielen Gruppenarbeiten auf und freut sich, dass alle Felix in ihrer Gruppe haben wollten. Wenn alle getanzt haben, saß er in seinem Rollstuhl und lachte von einem Ohr bis zum anderen. Wenn die Lehrerin fragte, ob alle ein Lied singen wollen, schrie Felix als Erster Ja, obwohl er nicht laut mitsingen konnte. Die Kinder bestanden auch darauf, Felix selbst in den Pausen zu füttern und das nicht der Krankenschwester zu überlassen. Interessanterweise entwickelten die Kinder aber nicht nur für Felix ein besonderes Mitgefühl, sondern auch füreinander. So etwas hatte Sonja Schärf vorher nie erlebt. Offensichtlich erkannten die Kinder dieses Mehr an Zuwendung und es wurde ihnen bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist, gesund zu sein oder dass es einem gut geht. Dass die Kinder aber nicht ihre sprichwörtliche Ehrlichkeit verloren hatten, zeigte sich, als ein Schüler aus einer anderen Klasse „stolz“ seine Gipshand vorführte. Ein Mädchen sagte dann zu dem Jungen: „Ich möchte auch so eine Gipshand haben“, und Felix schrie: „Ja, ich auch.“ Und darauf entgegnete das Mädchen: „Was willst du denn noch, jetzt hast du ohnehin schon einen Rollstuhl.“
    Welche Gratwanderung sie auf sich genommen hat, wurde der jungen Lehrerin bei einem Ausflug an einen See bewusst. Die Kinder wollten schwimmen und Felix wollte mitmachen. Felix’ Mutter, die dabei war, ging also auch mit ihm ins Wasser. Danach legte sie ihn auf den Steg zum Trocknen. Die Kinder saßen herum und drohten scherzhaft, Felix ins Wasser zu werfen. Felix war sogleich begeistert von der Idee: „Ja, super, schmeißt mich hinein.“ Die Mutter griff natürlich sofort ein und erklärte den Kindern, dass sie das nicht dürften. Wenn Felix nämlich ins Wasser falle, käme Wasser in die Lunge und er könnte daran sterben. Darauf sagte ein Mädchen zur Mutter: „Dann hast du es doch leichter.“ Das war ein Augenblick, in dem es die junge Lehrerin ins Herz stach.
    Felix ist natürlich ein geänderter Name. Ich habe Sonja Schärf nach unserem Gespräch ersucht, einen auszuwählen: „Felix, der Glückliche, denn ich habe nie erlebt, dass er schlecht drauf war. Er war immer fröhlich, wollte Fußballer werden, denn er hat nie die Hoffnung aufgegeben, eines Tages gesund zu werden. Wenn die Burschen Fußball gespielt haben, stand er mit seinem elektrischen Rollstuhl immer im Tor und hatte dabei Tormannhandschuhe an“, begründete sie ihre Wahl.
    „Für mich waren die Jahre mit Felix eine ungeheure Bereicherung, weil ich gelernt habe, mit Behinderung umzugehen. Vorher hatte ich diesen Zugang nie. Eigentlich sollten alle Lehrer und Schüler einmal diese Erfahrung machen.“ Aber wir können doch nicht in jede Klasse ein behindertes Kind setzen, frage ich verständnislos nach. „Warum nicht?“, entgegnet sie mir entwaffnend. „Ich glaube, dass das für das soziale Mitgefühl wahnsinnig wichtig wäre. Wie viele Erwachsene können mit Behinderten nicht umgehen und fühlen sich völlig unsicher.“
    Doch würde es nicht reichen, wenn wir in unseren Schulen einfach allen Schülern mehr Aufmerksamkeit schenken würden? Und ganz besonders jenen, die ein bisschen anders sind? Und sollten wir nicht alles tun, um Lehrerinnen wie Sonja Schärf jene Wertschätzung zu geben, die sie verdienen? Es gäbe genug Menschen, die alle Qualitäten hätten, die einen ausnehmend guten Lehrer auszeichnen. Warum arbeiten so wenige von ihnen an Schulen? Weil jede Gesellschaft nicht nur die Regierung hat, die sie verdient, sondern auch die Lehrer. Viele talentierte Schüler könnten eines Tages zu guten Lehrern statt zu gut bezahlten Managern, Anwälten oder Bankern ausgebildet werden. Das Geld fehlte ihnen nicht, würden sie mit Respekt bezahlt. Wenn unsere Gesellschaft mehr Respekt für die Lehrer hätte, dann würden noch mehr unserer Besten Lehrer werden – und das wäre der entscheidende Schlüssel für bessere Schulen.
    Harvard-Professor Howard Gardner, der Entdecker des Konzepts der multiplen Intelligenz, stellte in einem Gespräch mit mir folgende Hypothese auf: [16] Würde man versuchen, ein Ranking zum Ansehen des Lehrerberufs in allen Ländern der Welt vorzunehmen und es einem Ranking der besten nationalen Schulsysteme gegenüberstellen, wäre er

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