Der verletzte Mensch (German Edition)
reagieren kann: Rückzug, Angriff oder sich tot stellen. Wie unschwer zu erraten ist, sind das Urinstinkte, die wir seit Jahrtausenden in uns tragen. Je genauer ein Mensch seinen eigenen Reflex kennt, also zum Beispiel Flucht in Alkohol, Tabletten oder sogar aus der Realität, umso eher kann er verhindern, dass er automatisch in diesen verfällt und damit oft überreagiert. Menschen, die auf Angriff programmiert sind, denken sofort ans Zurückschlagen, ans Durchkämpfen und führen häufig Kriege gegen Bedrohungen, die sie selbst in ihrer Fantasie aufbauen. Daher ist die spontane Reaktion auf eine Kränkung mit hoher Wahrscheinlichkeit die falsche, die häufig noch mehr Probleme schafft.
Der Schauprozess – wie wir in unseren inneren Dialogen als Ankläger und Richter immer wieder denselben Täter verurteilen
Der Consigliere der Familie Corleone, Tom Hagen, sagt zu Michael Corleone, der gerade seinen Bruder und alle an einer Verschwörung gegen ihn Beteiligten hatte umbringen lassen: „Michael, du kannst nicht jeden töten.“ Darauf antwortet Michael: „Ich möchte nicht jeden töten, nur alle meine Feinde.“
Manchmal schleicht sich ein kleiner Michael Corleone in unsere Seelen ein und lässt uns in unserer Fantasie alle unsere Feinde schwere Schicksalsschläge oder gar grausame Tode erleiden. Der Teil in diesen fiktiven Rachefeldzügen, der uns die größte Befriedigung bereitet, ist, wenn unsere Feinde im Augenblick ihres größten Leidens erkennen, was sie uns angetan haben und sich selbst verfluchen. Leistet man sich dieses geheime Vergnügen von Zeit zu Zeit, dann verschafft es harmlose Erleichterung. Vor allem, wenn man schnell wieder aus seinen Fantasien aussteigen kann. Gefährlich wird es, wenn uns diese Rachegedanken zu beherrschen beginnen. Immer wieder spielen wir dann die gleichen Szenen durch und reichern sie mit neuen Details an. Die Dialoge mit unseren Feinden, bei denen wir allmächtiger Ankläger und Richter zugleich sind, können mit den besten Hollywoodfilmen mithalten, ja eigentlich sollten wir dafür den Oscar bekommen. Stundenlang dauern unsere Anklagen, jedes Verteidigungsargument unseres Gegners wird von uns je nach augenblicklicher Gemütslage arrogant abgestraft oder mit unerschütterlicher Beweisfindung widerlegt. Kehren wir dann wieder in die Realität zurück, sind wir völlig geschafft von der harten Arbeit, die hinter uns liegt.
Rache tut gut
Nicht zufällig sind viele der besten Geschichten der Weltliteratur Rachegeschichten. Der Raub der schönen Helena löste den Trojanischen Krieg aus. Odysseus tötete nach seiner Rückkehr alle Feinde, die sich in seinem Heim breitgemacht hatten und seine Frau Penelope belagerten. Im Nibelungenlied lässt Brünhild, nachdem sie von Kriemhild gedemütigt wurde, Siegfried hinterhältig von Hagen töten. Kriemhild rächt sich später, indem sie das gesamte Geschlecht der Nibelungen blutig niedermetzeln lässt. Der Graf von Monte Christo hat im Gefängnis viele Jahre Zeit, um in seiner Fantasie von der Rache an seinen Feinden zu träumen, um diese dann nach seiner unverhofften Flucht minutiös zu planen und zu verwirklichen.
Das menschliche Bedürfnis nach Rache ist einer unserer stärksten Urinstinkte. Das Überleben des Stammes hing davon ab, dass die Beute gerecht verteilt wurde. Drängt sich jemand an der Supermarktkassa oder in der Abbiegespur bei einer Ampel vor, dann spüren wir diesen archaischen Reflex – wenngleich wir zivilisiert genug sind, ihm nicht nachzugeben. Summieren sich allerdings viele Kleinigkeiten, kann es schon passieren, dass wir offen losschlagen oder uns heimlich rächen. Denn Rache tut einfach gut. Die Schweizer Hirnforscher Ernst Fehr und Dominique de Quervain konnten in ihrer Forschungsarbeit herausfinden, dass im Belohnungszentrum des Gehirns gute Gefühle ausgelöst werden, wenn wir ungerechtes Verhalten anderer bestrafen. Diesen Kick erhalten wir sogar dann, wenn uns die Rache objektiv schadet.
Die spontane Rache des Weltklassefußballers Zinédine Zidane auf eine abfällige Bemerkung eines italienischen Spielers über seine Schwester beschädigte sein bis dahin so positives Image und kostete Frankreich wahrscheinlich den Weltmeistertitel. Ist der Entschluss, aus Rache zu zerstören, einmal gefasst, gibt es oft kein Halten mehr, selbst wenn sie einen völlig Unschuldigen trifft.
Ein 49-jähriger Handwerker in Hamburg marschierte seelenruhig ins Finanzamt, erkundigte sich nach seiner zuständigen
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