Der verletzte Mensch (German Edition)
Reaktion besteht darin, den anderen mit Verachtung zu strafen.
„Mit dem will ich nie wieder in meinem Leben etwas zu tun haben“, sagt man sich und möglichst vielen anderen. Doch auch das ist nur ein scheinbarer Ausweg, denn er kettet uns noch stärker an den Täter, dem wir damit weiter Macht über uns geben. Die Mittel sind verschieden, das Ziel ist immer klar. Dem anderen klar zu vermitteln: „Mit mir kannst du so etwas nicht machen, du hättest mich nicht verletzen dürfen, dafür wirst du jetzt bitter zahlen.“ [19]
Eines sollten wir nie aus den Augen verlieren, wenn wir vor der Entscheidung stehen, für erlittenes Unrecht und Kränkungen bittere Rache zu üben. Es gibt eine Spirale des Vertrauens, und es gibt eine Spirale der Eskalation ins Negative. Wenn ich mich einmal auf die Spirale der Rache und des Zurückschlagens eingelassen habe, dann werden die dadurch ausgelösten Eskalationen mein Leben immer mehr bestimmen. Will ich mein Leben so fremdbestimmen lassen? Will ich wirklich meinen Feinden und allen, die mich gekränkt haben, die Macht über meinen Schlaf geben? Wenn es mir dagegen gelingt, in die Spirale des Vertrauens zu kommen, werde ich glücklicher und harmonischer leben. Es wird mir ermöglichen, trotz erlittener menschlicher Enttäuschungen neuen Beziehungen einen Vertrauensvorschuss zu schenken.
Natürlich weiß ich, wie leicht sich das alles sagt, wie vernünftig es klingt und wie schwer es umzusetzen ist, wenn man selbst betroffen ist. Denn selbst wenn man bereit wäre, großzügig die Hand zur Versöhnung zu reichen, fürchtet man am Ende als Verlierer dazustehen – und das würde uns noch mehr verletzen. Wenn wir schon verzeihen, dann wollen wir zumindest Reue beim anderen erkennen. Wie oft fehlt jedoch jede Einsicht beim anderen? Und haben wir nicht schon die bittere Erfahrung machen müssen, dass jemand, der uns sehr gekränkt hat, zwar unser Versöhnungsangebot freudig angenommen hat, nur um dann später unser Vertrauen erneut zu missbrauchen?
Die öffentliche Verletzung – Innenansichten einer Betrogenen
Am frühen Morgen des 15. August 1998 weckt Bill seine Frau. Er sagt ihr, dass die Situation im Fall Monica Lewinsky doch sehr viel ernster sei, als er ihr gegenüber bisher zugegeben habe. Er werde aussagen müssen, dass es zwischen ihm und Lewinsky zu „unangemessener Intimität“ gekommen sei. Was vorgefallen sei, sei kurz und sporadisch gewesen. Er habe ihr nichts gesagt, weil er wusste, wie sehr es sie verletzen würde. Hillary beginnt zu weinen und schreit ihren Gatten an: „Was soll das heißen? Was sagst du denn da? Warum hast du mich belogen?“ Bill steht einfach nur da und sagt immerzu: „Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich wollte dich und Chelsea schützen.“
In diesem Augenblick unterschied sich die Situation im Schlafzimmer im Weißen Haus durch nichts von den vielen anderen, in denen untreue Ehemänner ihren Frauen beichten. Alles war genau so. Er ein Wiederholungstäter, der jedes Mal, wenn er ertappt worden war, tausende Eide schwor, dass das nie wieder passieren würde. Sie eine Ehefrau, die das nur zu gerne geglaubt hatte. Und seine Frau war auch, um selbst dieses Klischee zu erfüllen, die Letzte, die es erfuhr. Die engsten Mitarbeiter und die Anwälte des Präsidenten wussten schon lange, wie die Sache mit Lewinsky wirklich gelaufen war. Das, was Bill und Hillary Clinton tatsächlich von normalen Eheleuten unterschied, war, dass an diesem Morgen die „New York Times“ mit der Schlagzeile „Präsident erwägt, sexuelle Kontakte einzugestehen“ aufmachte. Bill Clinton hatte seine Beichte bis zum letztmöglichen Augenblick hinausgeschoben.
Nirgends schmerzen Verletzungen so sehr wie in der Politik, weil sie öffentlich sind, weil die ganze Nation, im Falle von internationalen Politikern wie den Clintons, die ganze Welt sich daran ergötzt, dass es auch in der Ehe des mächtigsten Mannes der Welt nicht anders zugeht als bei ihnen. Schlagzeilen können Menschen erschlagen. Worte können Geschosse sein, die schwer verletzen. Hillary Clinton hatte gehofft, dass ihr Ehemann mit der Übernahme der Präsidentschaft seine Triebe besser würde steuern können und das Leid, das sie während ihrer Ehe hatte ertragen müssen, überwunden war. Nun wurden alle vernarbten Wunden nochmals aufgerissen – und das in aller Weltöffentlichkeit. Gerade im Augenblick ihrer tiefsten Demütigung stiegen ihre Sympathiewerte stark. Sie gewann ungemein an Würde und
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