Der verletzte Mensch (German Edition)
entschieden haben, die Arbeit zu beginnen, dann gehen sie das sehr schnell und konsequent an. Frauen wollen eher eine Allianz mit dem Therapeuten gegen den abwesenden Dritten. Sie suchen vor allem Bestätigung in ihrem Leiden, während die Bereitschaft, in ihrem Leben tatsächlich etwas zu verändern, viel schwieriger zu erreichen ist“, erzählt die Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger aus ihrer Erfahrung. Viele Frauen zweifeln, dass sie überhaupt einen neuen Lebensentwurf für sich entwickeln können. Männer sind pragmatischer, wenn sie Fehler eingesehen haben, und tun sich daher leichter, neu anzufangen. Natürlich suchen auch Männer am Beginn einer Therapie oft die Bestätigung für das, was man ihnen angetan hat. Wenn sie aber die Fähigkeit zur Selbstreflexion nicht ganz verloren haben, sind sie sehr konsequent und stellen auch ihr bisheriges Leben radikal in Frage: Wer bin ich wirklich? Was macht mich aus? Warum bin ich so geworden?
Professionelle Hilfe durch Therapeuten ist aber weiterhin, von Extremsituationen abgesehen, ein Phänomen der oberen sozialen Schichten. In den unteren Schichten werden seelische Probleme nach wie vor mit den „traditionellen Methoden“ wie Alkohol, Gewalt, Schlafmittel, Spielsucht bis hin zur Selbstzerstörung „bewältigt“. An dem Spruch „Wer Sorgen hat, hat auch Likör“ hat sich sei den Zeiten von Wilhelm Busch wenig geändert.
Männer haben Erfolge – Frauen passieren Erfolge
Woher kommen diese doch sehr prinzipiellen Unterschiede? Eine Ursache ist, dass das Selbstwertgefühl von Jungen und Mädchen unterschiedlich entwickelt wird. Fragt man die besten Schüler nach einem Schulaufsatz, warum es ihnen gelungen ist, so einen tollen Aufsatz zu schreiben, dann antworten sie: „Bei diesem Thema kenne ich mich einfach gut aus“ oder „In Deutsch bin ich immer der Beste“. Stellt man den besten Schülerinnen dieselbe Frage, dann hört man: „Da habe ich Glück gehabt, weil genau auf dieses Thema habe ich mich gut vorbereitet“ oder „Das habe ich zu Hause geübt“. Fragt man umgekehrt die schlechtesten Schüler, warum sie eine negative Note geschrieben haben, erfolgen Antworten wie „Es war so laut in der Klasse, ich konnte mich einfach nicht konzentrieren“, „Dieses Thema war gar nicht angekündigt, das war unfair“ oder „Die Lehrerin mag mich einfach nicht“. Die schlechtesten Schülerinnen antworten dagegen: „Ich habe nicht genug geübt“, „Das war zu schwer für mich. Ich bin da einfach nicht gut genug“.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Studien, die die im englischen Sprachraum unter Kindern populären Buchstabierwettbewerbe untersuchten. Buchstabieren ist eine Disziplin, in der Mädchen in der Regel besser abschneiden als Jungen, und innerhalb einer Klasse können alle ziemlich genau die unterschiedlichen Fähigkeiten einschätzen. Ließ man Mädchen gegen Mädchen antreten, wagten diese nur dann den ersten Versuch, wenn sie wussten, dass die Kontrahentin nicht besser war als sie selbst. Wetteiferten dagegen die Jungen miteinander, dann meldeten sich diese auch, wenn sie wussten, dass der andere besser war. Die unterlegenen Jungen ließen trotz wiederholter Misserfolge nicht von ihrer Strategie ab, selbst wenn sie von den anderen dafür ausgelacht wurden. Es ist unschwer zu erraten, was passierte, als man die Jungen gegen die Mädchen antreten ließ. Letztere meldeten sich auch dann nicht, wenn sie sich ganz sicher sein konnten, dass sie besser als ihr Gegenspieler waren. Mädchen kamen überhaupt nur zu Punkten, weil sie einfach besser im Buchstabieren waren. Das Experiment machte deutlich, dass sich die Burschen auch durch offensichtliche Misserfolge in ihrem Selbstvertrauen nicht erschüttern ließen und eher zur Selbstüberschätzung neigten. Mädchen schätzen ihre Leistungen nicht nur realistischer, sondern im Gegenteil sogar negativer ein, als sie tatsächlich waren. Doris Bischof-Köhler liefert in ihrem Buch „Von Natur aus anders – Die Psychologie der Geschlechterunterschiede“ eine sehr gute Analyse der komplexen Zusammenhänge, die die Wissenschaft über die Unterschiede im Konfliktverhalten, Selbstvertrauen, Machtanspruch und Konkurrenzdenken zwischen den Geschlechtern herausgefunden hat. [22]
Offensichtlich koppeln Männer und Frauen ihre erzielten Leistungen mit ihrem Selbstwertgefühl unterschiedlich: Männer führen Erfolge auf ihre eigenen Leistungen zurück, während sie Misserfolge anderen Umständen
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