Der verletzte Mensch (German Edition)
Schokolade in sich hinein, wissend, dass ihr das schadet. Sie provoziert wegen einer absoluten Nebensächlichkeit einen Streit mit ihrem Freund, um sich zu bestätigen, dass sie für ihn auch nicht liebeswert ist – er reagiert wie erwartet. Am Abend vor dem Schlafengehen blickt sie nochmals in den Spiegel, sie glaubt schon zu sehen, wie sich die Schokolade negativ auf ihr Gesicht auswirkt. Morgen in der Früh wird sie sicher ein Kilo mehr haben, wenn sie sich auf die Waage stellt. Diese und ähnliche Rituale der Selbstbestrafung haben mir viele Frauen erzählt, die ihre Muster ganz genau kennen und diese trotzdem, wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert, immer wiederholen.
Wenn Löwinnen mit Wölfen kämpfen, gibt es immer tiefe Wunden
Der Mythos, dass die männlichen Wölfe eine angeborene sogenannte Beißhemmung hätten, die das beim Kampf unterlegene Tier durch das Anbieten seiner Kehle davor schützt, getötet zu werden, ist falsch und gilt als eindeutig widerlegt. Dass Männer und Frauen im Konfliktfall andere Waffen haben und diese auch unterschiedlich einsetzen, ist ebenso unumstritten.
„Während Männer schneller aggressiv werden und offen miteinander streiten und kämpfen, agieren Frauen eher indirekt durch verbale Attacken. Sie reden schlecht über den anderen, demütigen ihn und setzen ihn herab“, erklärt die Sexualwissenschaftlerin Herta Richter-Appelt. [24]
Martina Leibovici-Mühlberger: „Ein Thema, das für Frauen sehr spezifisch ist, ist Mobbing. Wenn Paare gemeinsam zu mir in die Praxis kommen, dann ist meistens zuerst einmal der Mann der Böse, er wird schnell laut und aufbrausend, daher ist er von vornherein der Schuldige. Wenn man aber die Interaktionen zwischen den beiden genau beobachtet, dann findet man manchmal auch heraus, dass die Frau den Mann in einem geschickten, fein gesponnenen Netz von oft auch nonverbalen Aggressionen provoziert. Selbst in der Therapiesitzung gelingt es ihr dann, den Mann mit kleinen Seitenhieben und verdeckten Angriffen emotional so aufzuheizen, dass dieser ausrastet, schreit oder untergriffig wird. Sie fragt dann scheinheilig die Therapeutin: ‚Schauen Sie sich den an. So geht der immer mit mir um.‘ Frauen kämpfen oft auch, indem sie ihre eigenen Aggressionen in andere hineinprojizieren. Das ist ihre Rechnung an das Patriarchat. Die offene Feldschlacht steht Frauen nicht zu, daher sind sie Meister der subversiven Kriegsführung. Diese läuft über Mimik, Gesten, feine Bemerkungen, also das Unbeweisbare, das Atmosphärische.“
Wie Jungen und Mädchen streiten lernen
Während Jungen ihre Konflikte mit Raufereien, Mutproben und Wettkämpfen offen austragen, werden Mädchen schon sehr früh ganz andere Dinge eingeimpft: nett, lieb, brav sein. Wenn Mädchen ihre Aggressionen offen austragen wollen, wozu sie durchaus am Anfang auch neigen, werden sie sofort gestoppt. Eine einfache Beobachtung vor einer Sandkiste: Der kleine Junge schlägt einem anderen die Schaufel auf den Kopf. Die Mutter sitzt daneben, reagiert nicht, unbewusst denkt sie sich: „Jungen sind eben so und müssen sich das untereinander selbst ausmachen.“ Wenn dagegen das kleine Mädchen genau dasselbe macht, ist die Mutter sofort alarmiert. Falls das eigene Kind die Angreiferin ist, dann wird diese sofort eingebremst: „Geh, lass sie doch auch spielen.“ Bekommt das eigene Kind gerade die Schaufel auf den Kopf, wird es sofort getröstet: „Du Arme, was ist dir denn passiert, tut dir etwas weh?“ Es wird den Mädchen sofort Unterlegenheit in der offenen Auseinandersetzung unterstellt. Streiten ein Junge und ein Mädchen in der Sandkiste, ist der Junge automatisch der Böse und das Mädchen das arme Opfer.
Dieses Verhalten wird bei Konkurrenzsituationen in Mädchengruppen fortgesetzt. Die Feindin wird nie offen angegriffen, es werden nur Geschichten über sie in die Welt gesetzt. Man agiert über die Wirkung dieser Aktionen, nie direkt. Mädchen und später Frauen, die zu offenen Konfrontationen neigen, werden sofort als aggressiv und unweiblich etikettiert. Viele Studien zeigen, dass Buben zu offener Aggression neigen, also zu allen Formen von körperlicher und verbaler Aggression. Mädchen tragen ihre Konflikte über Beziehungsaggression aus, also dem Drohen der Aufkündigung der Freundschaft, des Ausschlusses aus der Gruppe bis zur Verweigerung jeder Kommunikation. [25]
Die weibliche Neigung zu Beziehungsaggressionen bestätigt auch Alice Schwarzer: „Frauen verstehen zum
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