Der verletzte Mensch (German Edition)
zuschreiben. Bei Frauen ist es umgekehrt. Und das dürfte eine der Ursachen sein, warum selbst sehr erfolgreiche Frauen oft so große Selbstzweifel haben, ob ihnen ein positiver Neuanfang wirklich gelingen kann. Sie fesseln sich dann selbst viel zu lange in ihrer Opferrolle, auch wenn das Leiden zum Beispiel mit einem gewaltsamen Alkoholiker fast unerträglich ist. Aber auch offenkundig gescheiterte Beziehungen werden gegen jede Vernunft zwanghaft aufrechterhalten.
Sehr vereinfacht könnte man sagen:
Männer fragen sich bei Verletzungen: „Wie konnte gerade mir das passieren?“
Frauen sagen bei Verletzungen: „Klar, dass mir das passiert ist.“
Massage à trois
Karin B. wurde sehr von dem autoritären Auftreten ihres Vaters geprägt. „Ich habe mich recht bemüht, seinen Anforderungen zu entsprechen, immer wenn ich nicht entsprochen habe, bemühte ich mich noch mehr und bin wieder gescheitert.“ Mit 16 Jahren verliebt sie sich in einen älteren Mann, mit dem sie bald zusammenzieht und fast zehn Jahre gemeinsam lebt. Sie passt sich sehr an seine Wünsche an und ist fasziniert davon, was sie alles von ihm lernen kann. Für Karin B. steht fest, dass das der Mann ihres Lebens ist, mit dem sie einmal Kinder und eine Familie haben wird.
Im Laufe der Jahre treten aber immer mehr Spannungen auf, weil sie beginnt, sich gegen seine völlige Dominanz aufzulehnen. „Je mehr man in einer Beziehung streitet, umso mehr muss man sich fragen: ‚Warum will ich überhaupt diese Beziehung?‘ Wenn man sich dann wieder versöhnt, bindet man sich noch stärker. Unsere Beziehung war nie gleichberechtigt, ich habe aber sehr an mir gearbeitet, habe mich ständig analysiert und mich daher weiterentwickelt.“ Ausgerechnet das Thema Massage belastet die Beziehung immer mehr. „Ich musste ihn ständig massieren, weil er das von mir forderte, oft mindestens eine Stunde am Tag, teilweise spät in der Nacht. Ich konnte aber nie Nein sagen, und wenn, dann gab es fürchterlichen Streit. Egal wie lange ich ihn massierte, es war immer zu wenig. Irgendwann wurde mir klar, dass ich den Streit ohnehin immer habe, und daher habe ich begonnen, mich aufzulehnen. Als ich ihm dann einmal sagte: ‚Heute gibt es keine Massage‘, war das der Anfang vom Ende unserer Beziehung.
Er hat dann eine andere gefunden, die es toll fand, ihn ständig zu massieren. Ich habe das sehr lange nicht mitbekommen, weil es für mich undenkbar gewesen wäre, ihn zu betrügen, und das habe ich natürlich auch umgekehrt angenommen. Eine Freundin hat mir dann eines Tages die Wahrheit gesagt. Es hat mich so getroffen, es hat so unglaublich wehgetan. Die beiden haben das dann auch offen gelebt. Da wir eine gemeinsame Wohnung hatten, hat es mir das Herz zerrissen, wenn ich wusste, dass er am Abend jetzt bei ihr war. Manchmal habe ich es nicht ausgehalten und bin zu ihrer Wohnung gefahren und habe geschaut, ob das Licht an ist. Das Schlimmste war, dass ich erleben musste, dass ich ersetzbar war. Ich war so stolz, dass wir gemeinsam eine kleine Firma aufgebaut hatten. Auf einmal hat die andere meine Position eingenommen. Davor hat sie uns beiden zugearbeitet. Sie kamen jeden Morgen gemeinsam. Ich konnte trotzdem nicht Schluss machen, weil alles so fern von meinem Vorstellungsvermögen war. Er hat mir dazwischen auch immer wieder gesagt, dass ich die Frau seines Lebens sei. Das mit der anderen sei nur passiert, weil ich keine Zeit für ihn gehabt und ihm auch nicht genug Zärtlichkeit gegeben hätte – damit meinte er meine sinkende Bereitschaft, ihn stundenlang zu massieren.“
Karin ist sich der Unhaltbarkeit der Beziehung durchaus bewusst, kann sich aber nicht entscheiden, ihn zu verlassen und versucht daher alles, um ihn wieder zurückzugewinnen. „Ich weiß gar nicht, was ich alles getan habe, von Kuchenbacken bis zu besonders lieb sein. Das ging so ein halbes Jahr, dann kam Weihnachten. Mir war klar, dass ich das nicht durchstehen würde. Ich fuhr also über Weihnachten zu einer Freundin von mir nach Paris. Als ich einmal dazwischen anrief, erzählte mir eine Mitarbeiterin, dass die beiden nach wie vor jeden Morgen gemeinsam ins Büro kamen. Mir wurde deutlich, dass ich nicht mehr zurückfahren würde. Aus den geplanten zwei Wochen in Paris wurden zwei Jahre, in denen ich dort studierte und lebte. Ich habe mich in den folgenden Jahren in mein Studium und dann in den Beruf gestürzt. Diese Geschichte war aber so präsent, dass ich keine Sekunde nicht daran denken
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